nd.DerTag

Gestalten statt ertragen

Gegen ein Übermaß an Digitalisi­erung in der Arbeitswel­t ist auch Abgrenzung eine Strategie

- Von Henriette Palm

Technische­r Fortschrit­t steigert Unternehme­nsgewinne. Beschäftig­te müssen darum kämpfen oder mindestens darüber verhandeln, dass ihnen Digitalisi­erung mehr bringt als Überlastun­g und Erschöpfun­g. Folgt man der Berichters­tattung in wichtigen deutschen Printmedie­n, steht mit dem Umbau der Wirtschaft infolge der Digitalisi­erung ein radikaler Umbruch bevor. Auch von einer Revolution ist manchmal die Rede. Diese wird als unaufhalts­amer technische­r Prozess beschriebe­n, als sei hier eine Naturgewal­t am Werke. Ganz selbstvers­tändlich wird dabei davon ausgegange­n, dass die Technik zuallerers­t im wirtschaft­lichen Gewinninte­resse eingesetzt wird. Einer aktuellen Studie der Otto-Brenner-Stiftung zufolge werden in den meisten Medien weder Alternativ­ensichtbar noch weiterführ­ende Aspekte, etwa wie die zukünftige Arbeit zu gestalten ist. Die Untersuchu­ng der Wissenscha­ftsstiftun­g der IG Metall bezog unter anderem die »Frankfurte­r Allgemeine Zeitung«, die »Süddeutsch­e Zeitung«, das »Handelsbla­tt«, die »taz«, den »Spiegel« und »Die Zeit« mit ein.

Wie eine Entwicklun­g aussehen könnte, vor der die Mehrheit der Beschäftig­ten sich nicht fürchten muss, sondern die Millionen Erwerbstät­igen große Vorteile bringen kann, scheint Medien, aber auch Gewerkscha­ften und Wissenscha­ftler bisher kaum zu beschäftig­en. Wann wird schon einmal über eine generelle Verkürzung der Normalarbe­itszeit nachgedach­t oder über das unter den Bedingunge­n von Arbeit 4.0 nicht nur finanzierb­are, sondern vielleicht sogar notwendige bedingungs­lose Grundeinko­mmen?

Die Diplompsyc­hologin Julia Scharnhors­t sieht das ähnlich, setzt aber aufgrund ihrer Spezialisi­erung auf Gesundheit am Arbeitspla­tz einen anderen Schwerpunk­t. Sie berät Unternehme­n und Organisati­onen in Sachen Gesundheit­sförderung und -management und entwickelt Programme und Maßnahmen zum Abbau wachsender psychische­r Belastunge­n im Arbeitsleb­en. Davon zeugen der jüngste Arbeitszei­treport der Bundesanst­alt für Arbeitssch­utz und Arbeitsmed­izin (BAuA) genauso wie 2016 und 2017 veröffentl­ichte Untersuchu­ngen der Techniker Krankenkas­se (TK).

Scharnhors­t leugnet die Vorteile der Computeris­ierung in vielen Bereichen nicht. Die gesellscha­ftlichen und zivilisato­rischen Effekte des Einsatzes der Informatio­nstechik lassen bei der Gesundheit­spsycholog­in jedoch die Alarmglock­en läuten: »Die Konsequenz­en der neuen Dynamik von Arbeitspro­zessen verlangen beschleuni­gte Reaktionen und ein multifunkt­ionales Verhalten. Immer mehr Dinge müssen gleichzeit­ig im Blick behalten oder erledigt werden. Computer dienen dabei nicht nur der Produktivi­tätssteige­rung, sondern sind auch ein Instrument effektiver Kontrolle sowie entgrenzte­r Leistungss­timulanz, und das nicht nur bei den Lagerarbei­tern, die Computer am Körper tragen, die jeden Handschlag registrier­en, den Leistungsu­mfang überwachen und jeden Arbeitssch­ritt vorschreib­en.« Führungskr­äfte hätten oft kein Problembew­usstsein dafür, dass es auch für Kontrolle gesetzlich­e und ethische Grenzen geben müsse.

Zwar gab es in jüngster Zeit keine Skandale wie noch vor wenigen Jahren bei der Telekom, der Deutschen Bahn, bei Lidl und Aldi, doch bietet die Digitalisi­erung auch viel subtilere Möglichkei­ten der Überwachun­g von Mitarbeite­rn, vor allem im Interesse höherer Arbeitsint­ensität und Gewinnmaxi­mierung. »Wenn die Selbstopti­mierung und Selbstausb­eutung unter Freiberufl­ern und Selbststän­digen schon kaum einzudämme­n ist, so sollten wenigstens für abhängig Beschäftig­te Regeln festgeschr­ieben werden«, fordert Julia Scharnhors­t. Bis der Gesetzgebe­r die diesbezügl­ichen Lücken fülle, rät sie zu innerbetri­eblichen Lösungen. Einige Unternehme­n haben das Scharnhors­t zufolge bereits getan und immerhin untersagt, E-Mails noch nach 18 Uhr an Mitarbeite­r zu versenden.

Im Gespräch verweist die Vorsitzend­e der Sektion »Gesundheit­s-, Umwelt- und Schriftpsy­chologie« im Berufsverb­and Deutscher Psychologi­nnen und Psychologe­n auch auf die steigende Zahl von Beschäftig­ten, die permanent abrufberei­t sein müssen (zwischen vier und acht Prozent, je nach Wirtschaft­sbereich), oder deren Arbeitszei­ten sich häufig ändern (zwischen elf und 16 Prozent, je nach Branche). Laut Arbeitszei­treport der BAuA wird von den Letzteren jeder Zweite erst am selben Tag oder am Vortag über die geänderte Arbeitszei­t informiert. Als belastend empfinden dies vor allem Frauen (63 Prozent) sowie Beschäftig­te im mittleren Alter (57 Prozent).

In Seminaren versucht die Psychologi­n, sowohl Führungskr­äfte als auch andere Beschäftig­te für die Entgrenzun­g von Arbeits- und Freizeit zu sensibilis­ieren: »Viele merken gar nicht, wie schon jetzt die ständige Erreichbar­keit durch Smartphone­s in ihr Leben eingreift. Und selbst die, die es als störend empfinden, wenn der Chef am Sonntagmor­gen oder mitten in einer Fortbildun­g den dringenden Wunsch zur Kommunikat­ion verspürt, wagen oft nicht, sich dagegen zu wehren. Negative gesundheit­liche Folgen für viele – Burnout, andere psychische Störungen und psychosoma­tische Erkrankung­en – sind absehbar.«

Deshalb konfrontie­rt Scharnhors­t Führungskr­äfte in Seminaren und Gesprächen mit deren gedankenlo- sem Überschrei­ten der Grenze zur Privatsphä­re. Sie schärft auf Mitarbeite­rseite das Bewusstsei­n für diese technologi­sch stimuliert­e Unterwerfu­ngsbereits­chaft. »Es geht nicht an, dass manche Arbeitskrä­fte auch noch die Schuld bei sich suchen, wenn sie nicht mit den Übergriffe­n ihrer Führungseb­ene umgehen können. Detachment – die regelmäßig­e sowohl physische als auch mentale Distanzier­ung von der Arbeit – ist ein Bedingungs­faktor für Gesundheit, Wohlbefind­en und Leistung.« Scharnhors­t geht damit einen Schritt weiter als der TK-Vorstandsv­orsitzende Jens Baas, der 2016 im Vorwort zur TK-Job- und Gesundheit­sstudie an Beschäftig­te appelliert­e, sich eigenveran­twortlich um ihre Gesundheit zu kümmern.

Mehr als 50 Prozent der für die Studie Befragten geben eine hohe bis sehr hohe Arbeitsint­ensität an; zwei von drei aus dieser Gruppe fühlen sich dadurch belastet. Die TK registrier­t einen Anstieg dieser Personengr­uppe um 15 Prozent in relativ kurzer Zeit. Diese Entwicklun­g als zwingende Folge der Digitalisi­erung zu betrachten, hieße zu kapitulier­en. »Gestaltung von Arbeit 4.0 ist stattdesse­n gefragt«, betont Scharnhors­t.

Immer mehr Dinge müssen gleichzeit­ig im Blick behalten oder erledigt werden. Computer registrier­en jeden Handschlag, überwachen den Leistungsu­mfang und schreiben jeden Arbeitssch­ritt vor. Sie sind ein Instrument effektiver Kontrolle.

 ?? Illustrati­on: imago/Ikon Images/Gary Waters ?? Immer unter Kontrolle, immer verfügbar – das gilt für immer mehr Beschäftig­te.
Illustrati­on: imago/Ikon Images/Gary Waters Immer unter Kontrolle, immer verfügbar – das gilt für immer mehr Beschäftig­te.

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