Gestalten statt ertragen
Gegen ein Übermaß an Digitalisierung in der Arbeitswelt ist auch Abgrenzung eine Strategie
Technischer Fortschritt steigert Unternehmensgewinne. Beschäftigte müssen darum kämpfen oder mindestens darüber verhandeln, dass ihnen Digitalisierung mehr bringt als Überlastung und Erschöpfung. Folgt man der Berichterstattung in wichtigen deutschen Printmedien, steht mit dem Umbau der Wirtschaft infolge der Digitalisierung ein radikaler Umbruch bevor. Auch von einer Revolution ist manchmal die Rede. Diese wird als unaufhaltsamer technischer Prozess beschrieben, als sei hier eine Naturgewalt am Werke. Ganz selbstverständlich wird dabei davon ausgegangen, dass die Technik zuallererst im wirtschaftlichen Gewinninteresse eingesetzt wird. Einer aktuellen Studie der Otto-Brenner-Stiftung zufolge werden in den meisten Medien weder Alternativensichtbar noch weiterführende Aspekte, etwa wie die zukünftige Arbeit zu gestalten ist. Die Untersuchung der Wissenschaftsstiftung der IG Metall bezog unter anderem die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die »Süddeutsche Zeitung«, das »Handelsblatt«, die »taz«, den »Spiegel« und »Die Zeit« mit ein.
Wie eine Entwicklung aussehen könnte, vor der die Mehrheit der Beschäftigten sich nicht fürchten muss, sondern die Millionen Erwerbstätigen große Vorteile bringen kann, scheint Medien, aber auch Gewerkschaften und Wissenschaftler bisher kaum zu beschäftigen. Wann wird schon einmal über eine generelle Verkürzung der Normalarbeitszeit nachgedacht oder über das unter den Bedingungen von Arbeit 4.0 nicht nur finanzierbare, sondern vielleicht sogar notwendige bedingungslose Grundeinkommen?
Die Diplompsychologin Julia Scharnhorst sieht das ähnlich, setzt aber aufgrund ihrer Spezialisierung auf Gesundheit am Arbeitsplatz einen anderen Schwerpunkt. Sie berät Unternehmen und Organisationen in Sachen Gesundheitsförderung und -management und entwickelt Programme und Maßnahmen zum Abbau wachsender psychischer Belastungen im Arbeitsleben. Davon zeugen der jüngste Arbeitszeitreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) genauso wie 2016 und 2017 veröffentlichte Untersuchungen der Techniker Krankenkasse (TK).
Scharnhorst leugnet die Vorteile der Computerisierung in vielen Bereichen nicht. Die gesellschaftlichen und zivilisatorischen Effekte des Einsatzes der Informationstechik lassen bei der Gesundheitspsychologin jedoch die Alarmglocken läuten: »Die Konsequenzen der neuen Dynamik von Arbeitsprozessen verlangen beschleunigte Reaktionen und ein multifunktionales Verhalten. Immer mehr Dinge müssen gleichzeitig im Blick behalten oder erledigt werden. Computer dienen dabei nicht nur der Produktivitätssteigerung, sondern sind auch ein Instrument effektiver Kontrolle sowie entgrenzter Leistungsstimulanz, und das nicht nur bei den Lagerarbeitern, die Computer am Körper tragen, die jeden Handschlag registrieren, den Leistungsumfang überwachen und jeden Arbeitsschritt vorschreiben.« Führungskräfte hätten oft kein Problembewusstsein dafür, dass es auch für Kontrolle gesetzliche und ethische Grenzen geben müsse.
Zwar gab es in jüngster Zeit keine Skandale wie noch vor wenigen Jahren bei der Telekom, der Deutschen Bahn, bei Lidl und Aldi, doch bietet die Digitalisierung auch viel subtilere Möglichkeiten der Überwachung von Mitarbeitern, vor allem im Interesse höherer Arbeitsintensität und Gewinnmaximierung. »Wenn die Selbstoptimierung und Selbstausbeutung unter Freiberuflern und Selbstständigen schon kaum einzudämmen ist, so sollten wenigstens für abhängig Beschäftigte Regeln festgeschrieben werden«, fordert Julia Scharnhorst. Bis der Gesetzgeber die diesbezüglichen Lücken fülle, rät sie zu innerbetrieblichen Lösungen. Einige Unternehmen haben das Scharnhorst zufolge bereits getan und immerhin untersagt, E-Mails noch nach 18 Uhr an Mitarbeiter zu versenden.
Im Gespräch verweist die Vorsitzende der Sektion »Gesundheits-, Umwelt- und Schriftpsychologie« im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen auch auf die steigende Zahl von Beschäftigten, die permanent abrufbereit sein müssen (zwischen vier und acht Prozent, je nach Wirtschaftsbereich), oder deren Arbeitszeiten sich häufig ändern (zwischen elf und 16 Prozent, je nach Branche). Laut Arbeitszeitreport der BAuA wird von den Letzteren jeder Zweite erst am selben Tag oder am Vortag über die geänderte Arbeitszeit informiert. Als belastend empfinden dies vor allem Frauen (63 Prozent) sowie Beschäftigte im mittleren Alter (57 Prozent).
In Seminaren versucht die Psychologin, sowohl Führungskräfte als auch andere Beschäftigte für die Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit zu sensibilisieren: »Viele merken gar nicht, wie schon jetzt die ständige Erreichbarkeit durch Smartphones in ihr Leben eingreift. Und selbst die, die es als störend empfinden, wenn der Chef am Sonntagmorgen oder mitten in einer Fortbildung den dringenden Wunsch zur Kommunikation verspürt, wagen oft nicht, sich dagegen zu wehren. Negative gesundheitliche Folgen für viele – Burnout, andere psychische Störungen und psychosomatische Erkrankungen – sind absehbar.«
Deshalb konfrontiert Scharnhorst Führungskräfte in Seminaren und Gesprächen mit deren gedankenlo- sem Überschreiten der Grenze zur Privatsphäre. Sie schärft auf Mitarbeiterseite das Bewusstsein für diese technologisch stimulierte Unterwerfungsbereitschaft. »Es geht nicht an, dass manche Arbeitskräfte auch noch die Schuld bei sich suchen, wenn sie nicht mit den Übergriffen ihrer Führungsebene umgehen können. Detachment – die regelmäßige sowohl physische als auch mentale Distanzierung von der Arbeit – ist ein Bedingungsfaktor für Gesundheit, Wohlbefinden und Leistung.« Scharnhorst geht damit einen Schritt weiter als der TK-Vorstandsvorsitzende Jens Baas, der 2016 im Vorwort zur TK-Job- und Gesundheitsstudie an Beschäftigte appellierte, sich eigenverantwortlich um ihre Gesundheit zu kümmern.
Mehr als 50 Prozent der für die Studie Befragten geben eine hohe bis sehr hohe Arbeitsintensität an; zwei von drei aus dieser Gruppe fühlen sich dadurch belastet. Die TK registriert einen Anstieg dieser Personengruppe um 15 Prozent in relativ kurzer Zeit. Diese Entwicklung als zwingende Folge der Digitalisierung zu betrachten, hieße zu kapitulieren. »Gestaltung von Arbeit 4.0 ist stattdessen gefragt«, betont Scharnhorst.
Immer mehr Dinge müssen gleichzeitig im Blick behalten oder erledigt werden. Computer registrieren jeden Handschlag, überwachen den Leistungsumfang und schreiben jeden Arbeitsschritt vor. Sie sind ein Instrument effektiver Kontrolle.