Digital verwahrlost
Mit modernster Technik von der Verhaltenssteuerung zur Verhaltensstörung
Konsumenten werden schon vom Kleinkindalter an auf exzessive Mediennutzung konditioniert. Auch Eltern unterschätzen die gesundheitlichen Gefahren für ihren Nachwuchs. Die Azubis haben geringere Fehlzeiten als alle anderen Beschäftigtengruppen, berichtet die Techniker Krankenkasse in ihrem jüngsten Gesundheitsreport. »Jung und gesund« scheint also noch zu stimmen. Jedoch zu früh gefreut. Die Fehlzeiten der Lehrlinge aufgrund psychischer Erkrankungen sind seit dem Jahr 2000 um 108 Prozent angestiegen, keine andere Altersgruppe erreichte einen so starken Zuwachs. Bei den Azubis haben sich zwischen 2004 und 2016 die Verordnungen zur Behandlung des Nervensystems mehr als verdoppelt. 2016 wurden je versicherten Azubi 4,41 Tagesdosen Antidepressiva und 2,65 Tagesdosen Psy- chostimulanzien verschrieben. TKChef Jens Baas will aus diesen Routinedaten keine Kausalzusammenhänge ableiten. Für ihn scheinen aber Veränderungen im Lebensalltag der Betroffenen eine lohnende Spur für die Suche nach den Ursachen.
Der Psychiater Volker Busch aus Regensburg sieht für das hohe Stresslevel in der Altersgruppe einen Grund: den Medienkonsum dieser Generation, die immer online ist. Phasen der Regeneration kämen hier zu kurz. Neueste Experimente, die Forscher in Austin, Texas, durchführten, dürften Buschs These bestätigen. Beobachtet wurden 800 Smartphone-Nutzer, wie sie am Computer anspruchsvolle Aufgaben lösten. Dabei bildeten diese drei Gruppen – je nach Aufbewahrungsort des ausgeschalteten Smartphones. Eine Gruppe legte das Gerät umgedreht auf den Tisch, die zweite trug es in einer Tasche bei sich und eine dritte legte es in einen anderen Raum. In den kognitiven Tests hatten die Teilnehmer um so schlechtere Ergebnisse, je präsenter ihr Smartphone war. Die Ablenkung resultierte also nicht aus ankommenden Nachrichten, sondern aus der bloßen Nähe der Geräte. Die Ergebnisse sahen nicht viel anders aus, als den Teilnehmern erlaubt wurde, die Telefone anzuschalten oder mit dem Display nach oben auf den Tisch zu legen oder beides zu tun.
Erklärt wird das Phänomen damit, dass das Gehirn vermutlich bereits darauf konditioniert ist, das Smartphone zu benutzen – und die erzwungene Nichtnutzung kognitive Fähigkeiten massiv einschränkt. Das Smartphone scheint zudem unser Verhalten auch in Richtung einer Sucht zu verändern. Dabei halten Kinder und erst recht Jugendliche nichts von Ruhephasen. Für alle Altersgruppen gilt, dass Monitorlicht von PC, Tablet oder Smartphones die Ausschüttung des Hormons Melatonin vermindert, das aber für das Einschlafen wichtig ist. Insbesondere unter Heranwachsenden im Alter von 11 bis 18 Jahren kontrollieren 45 Prozent ihr Smartphone noch im Bett, davon 23 Prozent mehr als zehnmal pro Nacht.
Eine Ende Mai veröffentlichte Studie des Berufsverbandes der Kinderund Jugendärzte befragte über 5500 Eltern und deren Kinder zum Umgang mit digitalen Medien. Sie förderte weitere Gesundheitsstörungen in diesem Zusammenhang zutage. Diese reichten von Fütter- und Einschlafstörungen schon bei Babys über Sprachentwicklungsstörungen bei Kleinkindern bis hin zu fehlender Konzentration im Grundschulalter. Die Ergebnisse zeigten, was Eltern mit Smartphones schon ahnen: 70 Prozent der Kinder im Kita-Alter nutzen die Geräte ihrer Mütter oder Väter mehr als eine halbe Stunde täglich. Bei den unter Sechsjährigen ist bei intensiver Nutzung – von mehr als einer Stunde täglich – nicht nur die Sprachentwicklung gestört, sondern sie sind häufiger auch motorisch hyperaktiv. Bei der Auswertung der Stu- die mahnte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Marlene Mortler, Eltern in der Mediennutzung Orientierung zu geben. Unter dem Stichwort »digitale Fürsorge« seien Schulen, Bildungseinrichtungen und Politik gefragt. Kinderärzte forderten, künftig die verpflichtenden Früherkennungsuntersuchungen durch eine Medienanamnese und eine qualifizierte Beratung zu ergänzen.
Wie weitgehend diese Beratung in Zukunft sein müsste, darauf wies der Computerwissenschaftler Tristan Harris hin. Er optimierte früher bei Unternehmen wie Google die Nutzerführung. Smartphones seien so konzipiert, dass die Nutzer möglichst viel Zeit damit verbringen. Niemand solle zu früh glauben, er hätte die sozialen Medien im Griff: »Vergessen Sie nicht, dass auf der anderen Seite Hunderte hervorragend ausgebildete Ingenieure sitzen, die sich mit nichts anderem beschäftigen, als Ihre Zeit im Sinne ihrer Auftraggeber zu gestalten.«