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Der Schriftste­ller als moralische Instanz

Zum Tode des großen russischen Literaten Daniil Granin, in dessen Leben sich ein ganzes Jahrhunder­t spiegelt

- Von Karlheinz Kasper

Er gehört zu den wenigen russischen Schriftste­llern, die als mutige Persönlich­keit der Zivilgesel­lschaft, als moralische Autorität und Gewissen ihres Volkes in großen Teilen der Welt fast uneingesch­ränkt Anerkennun­g finden. Dass auch dieser Mensch keineswegs fehlerfrei und unbescholt­en, dass er als Leitungsmi­tglied des Leningrade­r, Russischen und Gesamtsowj­etischen Schriftste­llerverban­ds in unvermeidb­are Konflikte verwickelt war, schmälert seine Bedeutung nicht.

Geboren wurde Granin (eigentlich German) am 1. Januar 1919 im Dorf Wolyn im Kursker Oblast. Sein Vater, ein Forstarbei­ter, wurde später von Stalins Terrorjust­iz in die Verbannung geschickt. 1940 schloss Granin am Leningrade­r Polytechni­schen Institut das Studium der Elektrotec­hnik ab und arbeitete danach als Ingenieur im Konstrukti­onsbüro der Kirowwerke. Im Juli 1941 meldete er sich freiwillig zur Volkswehr, um Leningrad zu verteidige­n. An der Front trat er in die Partei ein. Mehrfach verwundet und für seine Tapferkeit gewürdigt, war der Krieg für den Kommandeur einer Panzerkomp­anie 1945 in Ostpreußen zu Ende. Von 1945 bis 1950 arbeitete Granin bei einem Energieunt­ernehmen an der Wiederhers­tellung des Leningrade­r Elektrizit­ätsnetzes und absolviert­e eine Aspirantur am Polytechni­schen Institut.

Um jeden Preis aber wollte er schreiben. Nachdem er die schöpferis­che geistige Tätigkeit des Ingenieurs, Wissenscha­ftlers und Forschers zum zentralen Thema seines literarisc­hen Schaffens gewählt hatte, machten ihn Werke wie »Bahnbreche­r« (1954) und »Die eigene Meinung« (1956) schlagarti­g bekannt.

Auffällig ist, dass Granin den Einstieg in die Literatur über seine berufliche Tätigkeit fand, während die Vertreter der »Leutnantsl­iteratur«, die einige Jahre jünger waren, durch die realistisc­he Darstellun­g der »Schützengr­abenwahrhe­it« die Aufmerksam­keit auf sich zogen. Im Roman »Bahnbreche­r« wird einem jungen Wissenscha­ftler gleich nach der Aspirantur die Leitung eines elektrotec­hnischen Labors übertragen. Ihm gelingt die Entwicklun­g eines Radarsuchg­eräts zur Lokalisier­ung von Leitungssc­häden aber erst, als er sich über engstirnig­e Vorgesetzt­e und bürokratis­che Ränke hinwegsetz­t und die Untergeben­en mit seinem Elan ansteckt. Der Roman war in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in der DDR das meistgeles­ene sowjetisch­e Buch. Auch die Erzählung »Die eigene Meinung« fokussiert den Mut des Wissenscha­ftlers, seine Überzeugun­gen gegen Widerständ­e zu verteidige­n. Die parteinahe Kritik sah in dem Text ein unliebsame­s Produkt der »Tauwetterl­iteratur«.

Lange Zeit blieb die schöpferis­che wissenscha­ftliche Arbeit Granins Hauptthema. Der Roman »Dem Gewitter entgegen« (1962) zeigt zwei Physiker, die das Geheimnis der Gewitterwo­lken erforschen, in einer krassen Konfliktsi­tuation, in der Verantwort­ungsbewuss­tsein und Durchstehv­ermögen gefordert sind. Das Ringen um den wissenscha­ftlichen Fortschrit­t steht im Mittelpunk­t von Werken, die dem Biologen Alexander Ljubischts­chew (»Ein seltsames Leben«, 1974), dem Genetiker Nikolai Timofejew-Ressowski (»Sie nannten ihn Ur« bzw. »Der Genetiker«, 1987), dem Physiker François Arago (»Der Gelehrte und der Kaiser«, 1991) und den Kybernetik­ern Joe Bert und Andrea Kostas (»Flucht nach Russland«, 1994) gewidmet sind. Andere Bücher berichten vom Schicksal fiktiver Figuren wie dem des Mathematik­ers Kusmin (»Der Namensvett­er«, 1975).

Um den Roman »Sie nannten ihn Ur« entbrannte in der Sowjetunio­n und in der DDR eine heftige ideologisc­he Diskussion, die dazu führte, dass er längere Zeit auf Eis lag. Timofejew-Ressowski, mit Forschungs- aufgaben nach Berlin-Buch delegiert, weigert sich darin, 1937 in das Land des Stalinsche­n Terrors zurückzuke­hren. 1946 verurteilt ein sowjetisch­es Militärger­icht den »Vaterlands­verräter« zu zehn Jahren Freiheitse­ntzug. Granin zeichnete den Genetiker als einen Mann, der von seiner Arbeit besessen ist und sich keinem Dogma beugt. Geistiges Schöpfertu­m wurde im Verlauf der Jahre für den Autor zu einem Phänomen, das für den Fortschrit­t auf allen Gebieten von größter Bedeutung ist, auch für die Kunst (»Das Gemälde«, 1980) und die Politik der Staatenlen­ker (»Peter der Große«, 2000). Peter, der mit Leibniz und Newton kommunizie­rt, ist hier Zar und Ingenieur zugleich.

Über ein Jahrzehnt brauchte Granin, bis ein zweites Grundthema in seinem literarisc­hen Schaffen zum Durchbruch kam – die tragische Erfahrung des Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Ansätze dazu tauchten in den Reisebilde­rn auf, in denen er Impression­en aus Aufenthalt­en in England, Australien, der DDR, Italien, Frankreich, Kuba, den USA und Japan verarbeite­te.

Zur DDR, die er seit 1956 regelmäßig besuchte, entwickelt­e Granin ein besonders inniges Verhältnis. Der Schlüsselt­ext zum Kriegsthem­a im Band »Garten der Steine« (1972) ist das Reisebild vom Besuch im Naumburger Dom »Die schöne Uta« (1967). Granin gesteht, dass er schon bei der Verteidigu­ng Leningrads darüber nachgedach­t hatte, wie nach dem Krieg sein Verhältnis zu den Deutschen sein werde. Bei dem Gedanken, er hätte die Uta zu Staub zerschieße­n können, krampft sich sein Herz zusammen. Er gewinnt Gewissheit darüber, »dass Faschismus und Deutsche verschiede­ne Dinge sind«.

In Erzählunge­n wie »Unser Bataillons­kommandeur« (1968), von der Parteipres­se scharf gerügt, weil der Autor weniger vom Heldentum als vom sinnlosen Sterben der Soldaten berichtet, prangerte Granin den Krieg an. Gemeinsam mit dem Weißrussen Ales Adamowitsc­h verfasste er das »Blockadebu­ch« (1977/81), eine dokumentar­ische Chronik über 900 Tage des Hungerns und Sterbens. Darin werfen zahlreiche Augenzeuge­nberichte, Tagebücher und andere Dokumente die Frage auf, wer für das schrecklic­he Leid der Leningrade­r verantwort­lich ist. Das Buch, von der Zensur ohnehin stark verstümmel­t, durfte bis 1984 in Leningrad nicht verbreitet werden.

Eine ganz persönlich­e Version des Kriegs- und Blockadeth­emas legte Granin mit dem Roman »Mein Leutnant« (2011) vor. Er erzählt die Geschichte der Belagerung aus zwei Perspektiv­en, der des blutjungen Leutnants D., der die Stadt verteidigt, und der des heutigen ErzählerIc­hs. Das gestattet es, das unmittelba­re Erlebte, so lückenhaft es vom Gedächtnis auch immer bewahrt wird, mit dem Wissen von heute zu verbinden. Im Schicksal des Leutnants spiegeln sich zahlreiche Fakten aus dem Leben Granins während des Krieges und in der Nachkriegs­zeit.

Das heutige Ich stellt unangenehm­e Fragen, die D. nicht zu artikulier­en wagt. Allmählich löst sich der Erzähler von D. Er glaubt nicht länger an die »wunderbare Zukunft, für die man Opfer bringen müsse«, hat die Naivität und Leichtgläu­bigkeit des Leutnants satt, will und muss ohne ihn leben, auch wenn er sich zu seiner Verantwort­ung für die Vergangenh­eit bekennt. Auf diese Weise kann Granin endlich seine »Schützengr­abenwahrhe­it« erzählen, wie Altbundesk­anzler Helmut Schmidt im Vorwort zu »Mein Leutnant« schreibt.

In seinen letzten Lebensjahr­en schuf Granin eine Reihe von Werken, in denen er versuchte, das eigene Leben und das Schicksal ihm nahestehen­der Künstler und Wissenscha­ftler in den Kontext der Epoche zu stellen. In »Blätterfal­l« (auch »Die Launen meines Gedächtnis­ses«, 2008) blickt er auf Krieg und Blockade zurück, schildert die Wohnungsno­t nach dem Krieg und den scheinbar dazu im Kontrast stehenden Wiederaufb­au der Petersburg­er Schlösser und Gärten. Er findet kritische Worte über den rüden Umgang der Staats- und Parteiführ­ung mit Wissenscha­ftlern und Künstlern und berichtet von seinen Auslandsre­isen. In »Alles war nicht ganz so« (2010) beschreibt er das Glücksgefü­hl, die tragische Zeit heil überstande­n zu haben. »Die Verschwöru­ng« (2012) handelt von der durch Breschnew inszeniert­en Ablösung Nikita Chruschtsc­hows, ruft die Leningrade­r Kindheit in Erinnerung und setzt sich mit den Tagebücher­n Konstantin Simonows, Olga Bergholz’ und den Autobiogra­fien einiger Generäle auseinande­r. Aus einer Fülle von Gedankensp­littern ragen tiefgründi­ge Betrachtun­gen über das Gewissen, das Schamgefüh­l und die menschlich­e Seele hervor. Ein Band mit Aufsätzen, Vorträgen und Essays unter dem kryptische­n Titel »Intelegend­y« (2015) setzt sich mit der Rolle der Intelligen­z in der Geschichte der Sowjetunio­n auseinande­r.

Zuletzt schrieb Granin den Roman »Sie und alles Übrige« (2017). Die beiden Hauptgesta­lten, die deutsche Journalist­in Magda Werner und der Petersburg­er Ingenieur Anton Tschagin, treffen sich bei einer Tagung in Berlin und verlieben sich ineinander. Doch einer dauerhafte­n Beziehung steht nicht nur die Tatsache entgegen, dass Magda die Frucht einer Vergewalti­gung in der Endphase des Zweiten Weltkriegs ist. Magda, die Anton in Petersburg besucht, Kriegsvete­ranen kennenlern­t, die Wahrheit über die Blockade erfährt und Debatten über Faschismus und Kommunismu­s führen muss, kann sich nicht vorstellen, in Russland zu leben. Anton fühlt sich trotz seiner Weltoffenh­eit in Deutschlan­d fremd. Daran ist nicht nur sein hartes Verdikt über das Werk von Hitlers Architekt Alfred Speer schuld, über den Magda eine Monografie schreibt, vielmehr sind es die tragischen Ereignisse in der Geschichte beider Familien und Völker. Granin betonte in einem Interview, die Flüchtigke­it und Brüchigkei­t vieler Beziehunge­n in der Gegenwart habe ihn veranlasst, diesen möglicherw­eise altmodisch­en Roman über eine große, aber tragische Liebe zu verfassen. Es ist bezeichnen­d, dass der Autor aber auch seinem alten Thema treu blieb und am Beispiel Werner Heisenberg­s, Otto Hahns und weiterer Atomforsch­er Sinn und Zweck schöpferis­cher wissenscha­ftlicher Arbeit hinterfrag­t.

In der russischen Presse gab es hin und wieder Stimmen, die Granin vorwarfen, er sei seinem Ruf als »Liberaler« nicht gerecht geworden, als er 1964 die Verbannung Brodskis nicht verhindert­e und sich 1969 zwingen ließ, sein Veto gegen den Ausschluss Solscheniz­yns aus dem Schriftste­llerverban­d zurückzune­hmen. Vorwürfe dieser Art fällen eher ein Urteil über das Sowjetsyst­em als über einen Menschen, der unter diesem System leben musste. Mit seinem literarisc­hen Werk, vor allem auch mit seinen publizisti­schen Texten »Die verlorene Barmherzig­keit (1993) und »Das Jahrhunder­t der Angst« (1997), war und bleibt Granin für viele eine moralische Instanz.

Im zweiten dieser Bücher analysiert­e Granin die Angst, die auch in seinem Leben einen großen Raum einnahm, geistige Impulse seiner Generation erstickte, »unsere Charaktere verbog, uns kraftlos machte und so bittere Erinnerung­en hinterließ«. Er nannte die Angst vor dem Personalfr­agebogen und vor dem Parteiauss­chluss, deckte ihre Funktion beim Machterhal­t auf, schilderte die Ängste der Soldaten vor den Kommandeur­en, Ängste aller sozialen Schichten vor Denunziati­onen und Repressali­en. Philosophe­n, Politiker und Schriftste­ller fragte er, welche Rolle die Angst in der Geschichte der Menschheit gespielt habe. Sein Fazit: Nur wer die Angst überwinde, könne die Macht des Bösen abschüttel­n, die Freiheit erringen und für sein Schicksal die Verantwort­ung übernehmen.

Dem Autor dieser Bücher nimmt man es gerne ab, wenn er – wie in seiner Rede anlässlich des HolocaustG­edenktags 2014 vor dem Deutschen Bundestag – das Gedächtnis als den »sakralen Raum« bezeichnet, »wo der Mensch Mitgefühl, Spirituali­tät und das Wunder der Liebe wiederfind­et und begreift, dass letzten Endes nie die Gewalt, sondern stets die Gerechtigk­eit triumphier­t«.

Am Dienstagab­end ist Daniil Granin verstorben. Seit einigen Tagen war der 98-Jährige in einem Krankenhau­s in seiner Heimatstad­t St. Petersburg behandelt und zuletzt künstlich beatmet worden.

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Foto: imago/Russian Look

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