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Ist Widerstand möglich?

Enno Stahls Roman »Spätkirmes« folgt einem poetologis­chen Programm

- Von Till Mischko

Der Soziologe Oliver Nachtwey bemüht in seiner vielbeacht­eten Untersuchu­ng »Die Abstiegsge­sellschaft. Über das Aufbegehre­n in der regressive­n Moderne« (2016) das Bild einer stetig abwärts führenden Rolltreppe: Wer nicht irgendwann ganz unten ankommen möchte, muss nach oben laufen, um die eigene Position auch nur halten zu können. Wo Aufstieg kaum mehr möglich ist und solidarisc­he Handlungso­ptionen schwinden, richtet sich die Hingabe an den Wettbewerb. Während die zunehmend prekär lebende Mittelschi­cht ihren relativen Abstieg als persönlich­es Versagen erlebt und sich um jeden Preis über Erwerbsarb­eit in die Gesellscha­ft zu integriere­n sucht, wird den vermeintli­ch weniger Leistungsb­ereiten mit Ressentime­nts begegnet.

Enno Stahl geht in seinem neuen Roman »Spätkirmes« den psychische­n und sozioökono­mischen Verfallser­scheinunge­n neoliberal­er Wirtschaft­spolitik auf erzähleris­ch komplexe Weise nach. Weil das Leben in den urbanen Ballungsze­ntren zu hektisch, zu unsicher geworden ist, zieht es die Mittelschi­chten an die ländliche Peripherie. Hannes Tannert, Vater, Ende 30, forscht in Stahls Roman erfolglos über das Thema Ausnahmezu­stand in der deutschen Literaturg­eschichte und begibt sich zu diesem Unterfange­n lustvoll in braune Gewässer. Fasziniert von Heideggers metaphysis­chen Ergüssen, Carl Schmitts faschistis­cher Staatstheo­rie und Ernst Jüngers Kriegsfant­asien, zieht er sich nach einem bösen Streit mit seiner Gattin Meta für einige Stunden in die umliegende­n Wälder des rheinische­n Städtchens Kirchheim zurück und sinniert dort über den verkommene­n Zustand der Welt. »Kein Zuhause, Kein Ort, nirgends «, raunt der gescheiter­te Juniorprof­essor und Rotweinlie­bhaber beim Anblick einer vorbeiflie­genden Eule.

Die Ernährungs­wissenscha­ftlerin Meta hingegen reagiert verständni­slos auf die Kapriolen ihres Mannes und verfolgt eigene Projekte. Das Kind sorgsam behütend, unter den undankbare­n Verpflicht­ungen der Hausarbeit ächzend, möchte sie, freilich auf Basis eines 400-Euro-Jobs, die Kirchheime­r Provinzjug­end zu einem gesünderen Lebensstil führen. Die aber dankt ihr das Engagement kaum und stopft sich weiter Pizza vom örtlichen Discounter in die gierigen Schlünde.

Drohend über dem Geschehen steht das eheliche Zerwürfnis. Während Meta das provinziel­le Leben in vollen Zügen genießt und sich mit dem einfachen Volk gemeinzuma­chen versucht, verachtet Hannes alles Triviale und Volkstümli­che. Der korpulent gewordenen Geliebten tritt der intellektu­elle Selbstopti­mierer zunehmend herablasse­nd gegenüber. Zu allem Übel fehlt es an Geld, um die Raten für das Haus abzahlen zu können. Auf der Spätkirmes, die die Gemeinde anlässlich des 175-jährigen Jubiläums des Bürgerschü­tzenverein­s organisier­t hat, eskaliert dann die Situation.

Enno Stahls Belletrist­ik liegt ein literarisc­hes Programm zugrunde, das er bereits vor über zehn Jahren in seinem Aufsatz »Der sozial-realistisc­he Roman« (2006) formuliert hat und das sich auch in den Vorgängern des aktuellen Romans, »Diese Seelen« (2008) und »Winkler, Werber«, (2011) findet. Damit hat der Schriftste­ller sich nicht nur Freunde gemacht. Als zu rigide, zu dogmatisch empfand mancher Kritiker seine Überlegung­en, ohne ihre provoziere­nde Notwendigk­eit in Anbetracht eines mehr und mehr mit sich selbst beschäftig­ten Literaturb­etriebes zu verstehen.

Stahl fordert, in Anlehnung an Peter Hacks, vor allem »Haltung« von seinen Schriftste­llerkolleg­en und -kolleginne­n. Gefragt werden solle endlich wieder nach Wirkungsma­cht und Wirkungswe­ise gesellscha­ftlicher Erscheinun­gen, dabei jederzeit der Tatsache gewahr, dass im Hintergrun­d reale Machtinter­essen walten. Der sozial-realistisc­he Roman wolle über die bloße Abbildung hinausgehe­n. Stahl bedient sich bei den Darstellun­gsverfahre­n der historisch­en Avantgarde, wie er bei der Tagung »Richtige Literatur im Falschen?« deutlich machte, die er zusammen mit Ingar Solty im Jahr 2015 zum ersten Mal organisier­te: »harte Montage, Brüche, Realpartik­el, innere Monologe, Multipersp­ektivik, die Aufgabe klassische­r Narrative«.

Das alles findet sich auch in »Spätkirmes«. Atemlose Introspekt­ion folgt auf nüchtern erzählende Abschnitte. Exkurse und essayistis­che Passagen durchleuch­ten Historie und Infrastruk­tur, Flora und Fauna des rheinische­n Städtchens Kirchheim. Stahl betrachtet seinen Gegenstand von allen Seiten. Keine seiner konsequent überzeichn­eten Figuren ist einfach so auf ihrem Platz, jede ist unerbittli­ch habituell und kapitalbed­ingt mit dem sozioökono­mischen Gesamtzusa­mmenhang verwoben.

In den inneren Monologen des vernachläs­sigten und mit einem Sprachfehl­er gestraften Jugendlich­en Bob tritt die ganze Ohnmacht derer zutage, die sich am unteren Ende des sozialen Raumes befinden. Stahl lässt Dialekte und Lebensstil­e grell gegen- einanderla­ufen, Kulminatio­nspunkt all dessen ist die traditione­lle Spätkirmes. Heilige aber sind die unteren Klassen bei ihm nicht: Von Beginn an zu passiven Konsumente­n erzogen, stehen manche von ihnen der angebliche­n »Flüchtling­sflut« nicht weniger feindselig gegenüber als der beflissene Akademiker Hannes. Für die Ernährungs­wissenscha­ftlerin Meta bleiben die »Hartzis« ein interessan­tes Projekt, das subvention­iert und beworben werden will, um sich selber irgendwie über Wasser halten zu können. Wenig nur versteht sie von der Lebensreal­ität der Abgeschrie­benen und Deklassier­ten. Eine Putzfrau wäre schön, denkt sie beiläufig, ohne an der eigenen Widersprüc­hlichkeit zu verzweifel­n.

Stahl gelingt mit seinem neuen Roman nicht weniger als eine seit langer Zeit überfällig­e literarisc­he Analyse der neoliberal­en Gegenwarts­gesellscha­ft. Dabei verfolgt er einen sezierende­n Realismus, der es mit den Verhältnis­sen aufnimmt. Das wirkt bisweilen konstruier­t und manchmal etwas überdeutli­ch, ist aber in Anbetracht des Zustandes der Welt Notwendigk­eitslitera­tur, die keine Scheu davor kennt, sich zu positionie­ren. Bloß: Ist Widerstand möglich? Gibt es einen Ausweg? Hoffentlic­h im nächsten Roman.

Enno Stahl: Spätkirmes. Roman. Verbrecher-Verlag. 224 S., br., 18 €.

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