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Der wilde Mann und die Eiskönigin

Armin Kaster schrieb einen Jugendroma­n, der Rätselhaft­es im Zusammenle­ben nicht übertüncht

- Von Irmtraud Gutschke

Arthur wird bald 16, und niemand weiß, dass er mit zwei Geisterfig­uren lebt. Manchmal sitzt bei ihm auf der Fensterban­k der »wilde Mann«, der direkt aus dem Wald zu kommen scheint. »Er ist groß und stark, seine Arme sind behaart und voller Tattoos.« Dabei hat er ein sanftes Lächeln. »Ich bin bei dir. Jeden Tag.« Er erinnert Arthur an die Männer, die er vom Fenster seines noblen italienisc­hen Hotels im Stadtpark sah. »Sie lagen auf den Bänken, lachten, grölten, rauchten, schrien und waren umgeben von Hunden, die wie Wölfe aussahen. Es waren wilde Menschen.« Fasziniert war er von ihnen, weil »sie machten, was sie wollten«. Eines Tages wird Arthur das auch für sich selber versuchen. Er wird völlig verdreckt auf Müllsäcken schlafen, und sein Kiefer wird schmerzen, weil ihm ein anderer Bettler einen Zahn ausgeschla­gen hat. Zornig war der, allein schon, weil Arthur ihm ins Gehege kam, und die Wut steigerte sich noch, weil er das von ihm Erbettelte nicht etwa selbst behielt, wie es für einen armen Jungen normal gewesen wäre. Hätten sich die anderen Bettler nicht freuen sollen, weil Arthur ihnen seine Tagesbeute weitergab?

Das ist eine der Fragen, die jungen Lesern nach der Lektüre im Kopf herumgehen werden und über die sich zu reden lohnt. Im Unterricht vielleicht? Spannend ist dieser Jugendroma­n von Armin Kaster, und er folgt keinem Schema. Als Bettler in München trägt Arthur immer noch (die in- zwischen schmutzsta­rrende) Schulunifo­rm eines feinen englischen Internats. Dabei weilen seine Großeltern und sein Vater über Weihnachte­n in einem Schweizer Chalet. Wo sie ihn erwarten.

Warum reist er nicht dorthin? Nur weil er sich in einer völlig anderen Umgebung mal ausprobier­en will? Ein verzärtelt­er junger Mann? Das ist er gerade nicht! Zärtlichke­it fehlte ihm womöglich schon als kleines Kind. So sind ihm Stacheln gewachsen. In jenem Sommer im italienisc­hen Hotel hat er die freundlich­en Großeltern, den Vater und, ja, auch die Mutter brüskiert. Die Mutter, von der man nicht weiß, ob sie herz- oder nervenkran­k war, und die plötzlich tot auf dem Rücksitz im Auto lag, nachdem sie an ihrem Handy he- rumgespiel­t hatte. Ist Arthurs seltsames Benehmen danach auch ein Ausdruck von Trauer? Wahrschein­lich. Menschen trauern auf unterschie­dliche Weise. Er hat wohl seine Mutter viel stärker geliebt, als das offenbar geworden war.

Doch was ist mit seiner fast vergessene­n Kindheitse­rinnerung an die »Eiskönigin«? Er sah sie hinter der Fenstersch­eibe, und sie wurde immer größer. Warum wird der Vater so ärgerlich, als der Junge ihm davon erzählt? Was geht da überhaupt vor in dieser Familie, die ihres Reichtums wegen doch ohne Sorgen sein müsste? Man könnte glauben, dass Armin Kaster, 1969 in Wuppertal geboren, aus der Psychoanal­yse käme. Aber er hat zunächst Wirtschaft­swissensch­aften, dann Pädagogik studiert und mehr als ein Dutzend Bücher für Kinder und Jugendlich­e veröffentl­icht. Dabei beschäftig­t er sich auch mit Kunstthera­pie.

Warum ist Arthur seit Langem wie »vereist«? Hat die Familie seiner Mutter gegenüber eine Schuld oder umgekehrt? Leidet sein Vater vielleicht auch und kehrt deshalb Jugendlich­keit heraus? Hat der Vater ein Recht auf ein für Arthur kaum akzeptable­s eigenes Leben? Viele Fragen bleiben im Raum. Gibt sich Arthur womöglich die Schuld am Tod seiner Mutter? Am Ende findet er sein »eigenes Lied«. Wie das geschieht, ist auch ein wenig rätselhaft.

Armin Kaster: Winterauge. Roman eines Jugendlich­en. Jungbrunne­n, 168 S., geb., 15,95 €.

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