nd.DerTag

»Hauptsache raus«

Größtes Eisenbahnu­nglück der DDR bei Magdeburg jährt sich zum 50. Mal

- Von Simon Ribnitzky, Langenwedd­ingen

Vor 50 Jahren krachte ein Tanklaster in einen voll besetzten Zug bei Magdeburg. Beim schlimmste­n Eisenbahnu­nglück der DDR sterben fast 100 Menschen. Ein Überlebend­er berichtet. 50 Jahre hat es gedauert, bis HansGünter Bodewell an den Ort der Katastroph­e zurückkomm­t. Nachdenkli­ch blickt der 67-Jährige den grasbewach­senen Bahnsteig entlang. »Hier muss es gewesen sein«, sagt Bodewell, an diesem Sommertag mit weißer Hose, hellem Hemd und Strohhut bekleidet. Hier auf den letzten Metern des Bahnsteigs in Langenwedd­ingen bei Magdeburg landet der 17-jährige Bodewell am 6. Juli 1967 nach seinem Sprung aus dem bereits brennenden Zug. »Mein Leben war mir so wichtig, dass ich nicht mal wusste, wohin ich springe – Hauptsache raus.«

Ein Tanklaster hat den Zug gerammt. 94 Menschen sterben in einem Feuerinfer­no, darunter viele Kinder. Es ist das größte Zugunglück der DDR, eine der schlimmste­n Katastroph­en der deutschen Eisenbahng­eschichte. Bodewell überlebt, weil er schnell reagiert und sofort handelt.

Es sollte ein herrlicher Tag werden, jener 6. Juli 1967. Die Sonne strahlt vom makellos blauen Himmel, im Land herrscht Ferienstim­mung. Gegen 8 Uhr macht sich der Personenzu­g P 852 vom Magdeburge­r Hauptbahnh­of auf den Weg in den Harz, die Doppelstoc­kwagen sind mit rund 500 Reisenden voll besetzt, hunderte lärmender Kinder freuen sich auf ausgelasse­ne Tage im Ferienlage­r. Mit relativ hoher Geschwindi­gkeit braust der Zug auf den Bahnhof Langenwedd­ingen zu, ein Halt ist hier nicht geplant. Zur gleichen Zeit steht ein Tanklaster am Bahnüberga­ng direkt neben dem Bahnhof. Eine der vier Halbschran­ken lässt sich nicht richtig schließen, und so nimmt die Katastroph­e ihren Lauf.

Die Schranke, so rekonstrui­eren es die Ermittler später, verfängt sich in einem Telefonkab­el, das schon länger quer über dem Bahnüberga­ng hängt und sich wegen der Hitze verformt hat. Als der Schrankenw­ärter die Schranken nochmals hochzieht, um das Kabel zu lösen, setzt der Las- terfahrer seinen Tankwagen in dem Glauben in Bewegung, der Übergang sei freigegebe­n. Die Diesellok des Zuges, der trotz der Probleme am Übergang kein Stoppsigna­l erhält, kracht in den Laster. 15 000 Liter Leichtbenz­in entzünden sich und verwandeln mehrere Waggons und angrenzend­e Gebäude in ein Feuermeer.

Der Zug kommt im Bahnhof zum Stehen, aus den brennenden Waggons dringt das verzweifel­te Schreien der Menschen, von denen es vielen nicht gelingt, sich ins Freie zu retten. Auch der Lasterfahr­er stirbt. Der Schrankenw­ärter und der damalige Bahnhofsvo­rsteher werden später zu Haftstrafe­n von je fünf Jahren verurteilt.

Hans-Günter Bodewell reagiert sofort. »Raus hier, so schnell wie möglich«, beschreibt er 50 Jahre später seine Gedanken. »Da denkt man überhaupt nicht nach.« Viele andere bewegen sich nicht. »Die waren ge- schockt. Heute verstehe ich das, damals fand ich es unverständ­lich.«

Bodewell, bereits draußen auf dem Bahnsteig, hört die verzweifel­ten Schreie der Menschen im Zug. »Die Tür zum ersten Waggon stand ein Stückchen offen«, erinnert er sich. Der 17-jährige Schüler rennt hin, reißt die Tür auf, Hitze schlägt ihm entgegen, fast 1000 Grad. Es gelingt ihm, eine Mutter und ihr Kleinkind ins Freie zu ziehen. »Das Kind stand voll in Flammen.« Bodewell reißt sich das Hemd vom Leib, wickelt das Kind damit ein und erstickt so die Flammen.

Für seinen Einsatz bekommt Günter Bodewell später die Lebensrett­ungsmedail­le der DDR. Überreicht wird ihm die Auszeichnu­ng bei einem Festbanket­t für die Helfer. »Das empfand ich damals als ganz schlimm«, erzählt er. »Da haben sich Leute feiern lassen, die mit der Rettungsak­tion gar nichts zu tun hatten.« Auch diese Erfahrung ist ein Grund, warum der Mu- siker nach dem Unglück möglichst wenig mit der Sache zu tun haben will. Und dennoch zeigt die Katastroph­e auch bei ihm Folgen. »Ich bin mindestens ein halbes Jahr lang nicht mehr Zug gefahren.«

Heute sind die Fenster des einstöckig­en Bahnhofsge­bäudes mit Brettern vernagelt und mit Graffitis beschmiert. Die Dachrinne rostet vor sich hin, aus dem Schornstei­n wächst ein kleiner Baum. Nur noch alle zwei Stunden hält ein Zug auf dem Weg nach Magdeburg oder von dort in Richtung Harz. Auf dem Bahnsteig erinnert nichts an das Unglück, das sich hier abgespielt hat. Vorne am Bahnüberga­ng ist vor ein paar Jahren ein Gedenkstei­n aufgestell­t worden. »Da hätte ich mir schon ein bisschen mehr gewünscht«, sagt Bodewell. »Nicht mal den genauen Tag, nur die Jahreszahl haben sie draufgesch­rieben.« Bodewell wird jener 6. Juli für immer im Gedächtnis bleiben.

 ?? Foto: ADN/dpa ?? Die Unglücksst­elle in Langenwedd­ingen
Foto: ADN/dpa Die Unglücksst­elle in Langenwedd­ingen
 ??  ?? Hans-Günter Bodewell am Gedenkstei­n für die Opfer des Zugunglück­s
Hans-Günter Bodewell am Gedenkstei­n für die Opfer des Zugunglück­s
 ?? Fotos: dpa/Peter Gercke ?? Der Bahnhof in Langenwedd­ingen heute
Fotos: dpa/Peter Gercke Der Bahnhof in Langenwedd­ingen heute

Newspapers in German

Newspapers from Germany