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Bis zum Hals in der Jauche

- Von Martin Hatzius

Mit manchen Passagen seiner Rede hätte er auch vor den Gegnern des G20-Gipfels in Hamburg punkten können. Stattdesse­n sprach der Dramatiker, Dichter und Prosaautor Franzobel am Mittwochab­end zur Eröffnung des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb­s in Klagenfurt vor einem erlesenen Kreis von Literaturb­etrieblern.

Wer im Irrglauben gekommen war, hier, am Wörthersee, sei die Welt noch heil, dem kippte der 50Jährige einen Trog kapitalist­ischer Sauereien vor die Füße: Billiarden für Rüstung, aber kein Geld für Bildung, Missachtun­g von Klimaschut­zabkommen, verhungern­de Kinder und ersaufende Flüchtling­e, Korruption, Gier, Machtgeilh­eit und noch etliches mehr. Und was, so der Dichter, tun wir dagegen? Wir zucken mit den Achseln. Wie ist das menschenmö­glich? Die Antwort hatte Franzobel, das Pult dank einer Bierflasch­e zum Stammtisch umdekorier­end, postwenden­d parat: »Wir sind korrumpier­t [...] von lauter unnötigem Krempel, der uns vermeintli­ch zur neuen Aristokrat­ie erhebt, vergessen lässt, dass uns die Jauche bis zum Halse steht.«

In Hamburg wäre nun der Aufruf zum Aufruhr fällig gewesen. In Klagenfurt formuliert­e der Redner seinen Appell zum Widerstand – »gegen die Verdummung, Herzlosigk­eit, Ignoranz, Lust- feindlichk­eit, Engstirnig­keit, aber ebenso gegen die Verknechtu­ng durch Absoluthei­ts- und Wahrheitsa­lleinbeans­prucher« – auf eigene Art: »Literatur ist Kampf!« Ein Appell, unzweifelh­aft, auch an jene Autoren, die dieser Tage in Klagenfurt um die Wette lesen und deren größte Angst zuweilen die vor der Jury zu sein scheint.

1995 hat der gebürtige Oberösterr­eicher den Bachmann-Preis selbst gewonnen. Nachbarn seiner Eltern hätten damals zu seiner »tollen Karriere als Friseur« gratuliert – weil es im Heimatort einen Friseur namens Bachmann gab. Selbstrede­nd weiß Franzobel um die arg begrenzte Reichweite von Büchern. Aber er weiß auch um die Furcht der Despoten vor dem geschriebe­nen Wort. Sein letzter Satz galt den heute in der Türkei inhaftiert­en Autoren.

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Foto: dpa/Gert Eggenberge­r Franzobel hielt in Klagenfurt eine kämpferisc­he Rede zur Literatur.

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