nd.DerTag

Das Leben rückwärts leben

Stefanie Kaps wurde früh Mutter und zog ihren Sohn allein groß. Zwischen ständigen Schuldgefü­hlen hat sie lange gebraucht, um ihren eigenen Weg zu finden.

- Von Christin Odoj Name geändert

Dieser Brief an die Wohnungsve­rwaltung hat sie keine Überwindun­g gekostet. Die Alternativ­e wäre gewesen, in eines der schlechter­en Viertel zu ziehen, da, wo keiner Fragen stellt und die Mietintere­ssenten alle miese Karten haben. Stattdesse­n aber erklärte sie der Frau, die ihr vor ein paar Tagen die Zimmer gezeigt hatte, dass sie genau diese eine Wohnung will, in der schönen Gegend mit den netten Menschen und dem vielen Grün. Sie will hier endlich zur Ruhe kommen mit ihrem kleinen Sohn, das war die Wahrheit und so schrieb sie sie auch auf. Sie bekam die Wohnung mit ihrer Mutter als Bürgin, was ihr mit 31 irgendwie unangenehm war, aber anders ging es nicht.

Stefanie Kaps sitzt an einem sonnigen Tag im Juni am Dresdner Königsufer auf einer Picknickde­cke im Park. Sie hat Leitungswa­sser und Becher von zu Hause mitgebrach­t. Ihr Sohn Marvin* ist in der Schule, geht in die fünfte Klasse einer Privatschu­le. Kaps, inzwischen 32, zieht ihren Sohn alleine groß und studiert noch, Masterstud­iengang Produktion­smanagemen­t mit Schwerpunk­t Gartenbau. Der Job als Ergotherap­eutin, der Beruf, den sie nach der Realschule gelernt hatte, ließ ihr wenig Luft, erst recht nicht nach oben. »Ich wollte immer mehr vom Leben, als in diesen vorgeferti­gten Strukturen möglich war«, sagt sie.

Kaps ist mit 20 Mutter geworden, da war sie gerade mitten in den Abschlussp­rüfungen ihrer Ausbildung. Mit Marvins Vater ging es auseinande­r, als sie noch schwanger war. »Er war einer dieser heute-hier-morgendort-Menschen.« Beide hatten eine wilde Jugend, sagt sie, beide waren noch so jung. Für sie war klar, dass ein Kind ihre Welt verändern würde. Von Marvins Vater, der bei der Geburt noch weinte und versprach, immer für sie da zu sein, hörte sie nun immer weniger. Unterhalt zahlte er nicht. Sie forderte zuerst auch nichts ein. Kaps ist selbst Scheidungs­kind und vergleicht die Situation mit ihrer, als der Vater sich plötzlich ins Ausland verdrückte, als die Mutter von ihm Geld verlangte. »Ich hatte Angst, Marvin würde es genauso gehen.« Immerhin war die Beziehung zu den Eltern des Vaters stabil, die ihren Enkel am Wochenende gerne zu sich nahmen. Das wollte sie nicht aufs Spiel setzen. Marvin sah seinen Vater nur, wenn der bei seinen Eltern zu Besuch war. In den elf Jahren, die der Junge inzwischen alt ist, habe der Vater nur ein paar Mal von sich aus angerufen. Alle Gespräche, die darauf hinauslief­en, dass er ihn öfter sehen würde, blockte er ab, wollte sich nicht von Kaps unter Druck setzen lassen. »Dabei ging es nicht darum, ihm vorzuschre­iben, was er zu tun und zu lassen hat, sondern um seinen Sohn.«

Dann blieb sie eben allein. In einem Internetvi­deo gegen Kinderarmu­t, das auf Facebook 53 000 geklickt wurde, erzählt Kaps, dass sie einmal eine Absage auf eine Bewerbung bekam, weil der Arbeitgebe­r sich nicht vorstellen konnte, dass sie mit einem Kind flexibel genug sein würde. Und sie erzählt, dass sie denkt, schon alles zu geben und es manchmal trotzdem nicht zu packen. Der Weg aus der Kleinstadt im Erzgebirge, in der sie aufwuchs und arbeitete, hinein ins Studium in Dresden war auch der Versuch, sich von der Existenzan­gst freizumach­en. In ihrem Job als Ergotherap­eutin verdiente sie trotz Vollzeitst­elle so wenig, dass ihr Gehalt bezuschuss­t werden musste. Die Chefin eine Choleriker­in, Aufstiegsc­hancen: null. Um für Marvin und sich etwas zu essen im Kühlschran­k zu haben, ging sie manchmal zur Tafel. »Wir kamen mit dem Erziehungs­geld, Kindergeld und meinem Gehalt schon irgendwie über die Runden, aber es reichte nicht immer bis zum Monatsende.«

Kaps erzählt von dem Leben, das fast 40 Prozent aller Alleinerzi­ehenden kennen. Laut einer Bertelsman­nStudie aus dem letzten Jahr sind 37,6 Prozent abhängig von Sozialleis­tungen, fünf Mal mehr als das für Eltern in Paarbezieh­ungen gilt. Während in anderen Familienko­nstellatio­nen die Einkommen wachsen, verdienen 42 Prozent aller Solo-Eltern höchstens 60 Prozent vom mittleren Einkommen in Deutschlan­d, das bei rund 1600 Euro netto für einen Einpersone­nhaushalt liegt. Viele Alleinerzi­ehende profitiere­n vom Konjunktur­aufschwung der letzten Zeit kein bisschen. In neun von zehn Fällen ist der alleinerzi­ehende Elternteil noch immer die Mutter. Auf Unterhalt muss laut der Studie die Hälfte verzichten. »Der fehlende Unterhalt für die Kinder ist eine zentrale Ursache dafür, dass viele Ein-ElternFami­lien nicht über die Armutsgren­ze kommen – und das, obwohl mit 61 Prozent die Mehrheit der alleinerzi­ehenden Mütter erwerbstät­ig ist«, heißt es in der Untersuchu­ng.

Denen, die eigentlich unterhalts­berechtigt sind, die Zahlung aber aus verschiede­nen Gründen nicht einklagen, wird auch die Reform des Vorschussg­esetzes, das am 1. Juli in Kraft trat, nichts nützen. Kinder erhalten dann bis zum 18. und nicht wie bisher bis zum 12. Lebensjahr Geld vom Staat, das eigentlich das fehlende Elternteil zahlen müsste. Seit 2008 wird auf den Vorschuss auch das Kindergeld voll mit angerechne­t, sodass jede Kindergeld­erhöhung um ein paar Euro im Nichts verpufft. Zu den Gründen, warum (meistens) die Väter nicht zahlen, gibt es keine Studien. Stefanie Kaps braucht die auch nicht. »Als der Vater irgendwann mit einem Audi zum Treffen kam, sind bei mir alle Hemmungen gefallen«, sagt sie. Sie schaltete das Jugendamt ein, verklagte den Vater auf Unterhalts­zahlungen. Die kamen schließlic­h, wenn auch unregelmäß­ig. Zusammen mit der Ansage am Telefon, nun würde so wenig übrig bleiben, dass sich das Ar- beiten für ihn eigentlich nicht mehr lohne. »Da wusste ich, dass ich alles richtig gemacht hatte«, sagt Kaps. Mit den Unterhalts­zahlungen fiel sie aber plötzlich aus allen amtlichen Unterstütz­ungsleistu­ngen raus, kein Zuschuss mehr zum Schulmitta­gessen und der Fahrkarte für Marvin. Inzwischen war der Junge auch zu alt, um den BAföG-Kinderzusc­hlag zu erhalten, der nur bis zum 10. Lebensjahr gezahlt wird. Wieder 130 Euro weniger. »Als wenn das Kind mit elf auf einmal weg ist oder nichts mehr isst.«

Was die kleckerwei­sen Unterhalts­zahlungen für ein Nachspiel haben würden, erfuhr Kaps erst vor einem Jahr. Jedes Mal, wenn der Vater nicht zahlte, informiert­e sie das Jugendamt, das überwies an seiner Stelle den Unterhalt. Im nächsten Monat zahlte er wieder. Beim Geldeingan­g gab es Überschnei­dungen, die Kaps auf den Kontoauszü­gen nicht bemerkte. »Welche Zahlung welchem Monat zugeordnet war, da blickte ich nicht mehr durch. Ich ging davon aus, dass ich alle Angaben korrekt gemacht hatte.« Ende Juni 2016 kam dann die Aufforderu­ng, 700 Euro zu viel erhaltenes Geld zurückzuza­hlen. Das hatte sie schon längst ausgegeben. »Wenn man immer knapp bei Kasse ist, sind 700 Euro viel Geld. Die steckten dann schon im neuen Schulranze­n und in alltäglich­en Dingen.« Die Rückforder­ung vom Amt zahlt sie heute noch ab. Von den 1000 Euro, die die beiden im Monat mit BAföG, Kindergeld und Unterhalt zur Verfügung haben, gehen 400 Euro für die Miete drauf, 100 Euro zahlt sie Schulgeld, 140 Euro Krankenver­sicherung, 200 Euro für Lebensmitt­el. Vom Schulmitta­gessen hat sie Marvin abgemeldet, weil das, seit der Zuschuss wegfällt, zu teuer ist. Sie macht jetzt für jede Woche einen Essensplan und kocht im Voraus, damit Marvin das Essen mitnehmen kann. Wegen der Fahrkarte muss Marvin die Kontrolleu­re hin und wieder anschwinde­ln und erzählen, er hätte vergessen, sie für diesen Monat rauszulege­n. Die Frage, warum denn die teure Privatschu­le sein muss, ist eigentlich unerhört, aber sie wird ihr von Leuten, die es nicht gut mit ihr meinen, gestellt werden. Wenn man ein Kind hat, sagt Kaps, das für die Hausaufgab­en drei oder manchmal fünf Mal so lange braucht wie die Klassenkam­eraden, dann weiß man die intensive Hausaufgab­enbetreuun­g im Hort zu schätzen. Außerdem wollte sie für Marvin den besten Start ins Leben, den er kriegen konnte. Sie überlegte nicht lange, ob sie die 100 Euro nicht besser sparen sollte. Auf der Schule hatte sie Marvin angemeldet, als es ihr finanziell besser ging, da lebte sie für fünf Jahre in einer Beziehung, der Partner übernahm die Miete.

In dem Video, in dem Kaps von ihren Erfahrunge­n als Alleinerzi­ehende erzählt, erwähnt sie auch die Schuldgefü­hle gegenüber ihrem Sohn. Dann wird abgeblende­t. Was sie in dem Clip nicht sagt, ist, dass sie »sich nie so schuldig gefühlt hat wie als Mutter« und dass sie Angst hat, Marvin nicht 100 Prozent geben zu können – von fast allem. Aufmerksam­keit, Geduld, Urlaube, neue Turnschuhe. Bei den Hausaufgab­en hat sie anfangs so lange darauf bestanden, dass Marvin sie zu Ende macht, bis beide wütend aufeinande­r waren. Sie wollte ihm nicht beibringen, dass es okay ist, bei Schwierigk­eiten sofort aufzugeben. Es sollte doch alles perfekt laufen, sodass keiner merkt, dass die Verantwort­ung, die sie alleine trägt, sie manchmal fertig macht. Keiner sollte mitkriegen, dass sie nicht ist wie die Mütter im Fernsehen, die dem Kind, das zum fünften Mal aus dem Bett kommt, zum sechsten Mal dieselbe Geschichte vorlesen und immer noch gut drauf sind. Keiner sollte merken, dass sie manchmal einfach nicht wusste, wo sie die Kraft für die nächsten Schritte hernehmen sollte. »Irgendwann war mir aber unser Familienle­ben, unsere Beziehung wichtiger, als Marvin wegen seiner Pflichten unter Druck zu setzen. Dann waren die Hausaufgab­en eben nicht richtig oder unvollstän­dig. Ich bin deshalb keine schlechte Mutter.«

Jahrelang fuhr in ihrem Kopf ein Karussell aus Schuld und Versagensä­ngsten im Kreis: Was sagt die Lehrerin, wenn der Junge die Hausaufgab­en wieder nicht hat? Was denken andere Eltern, wenn sie fragen, ob Marvin schon genauso aufgeregt ist wegen der Mathearbei­t und sie gar nichts davon weiß. »Ich nahm das Leben lange als ewige Wiederkehr von Schuldgefü­hlen und Überforder­ung wahr«, sagt Kaps.

Oft dachte sie darüber nach, was sie verpasst hat, weil sie so jung Mutter geworden ist. Ihre Kommiliton­en fahren in den Ferien durch Europa, machen Praktika in Asien, starten erst beruflich durch, bevor sie Kinder bekommen. Mitleid mit Stefanie Kaps? Bei ihr wird es genauso sein, nur lebt sie dieses Leben rückwärts.

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»Irgendwann war mir aber unser Familienle­ben, unsere Beziehung wichtiger, als Marvin wegen seiner Pflichten unter Druck zu setzen. Dann waren die Hausaufgab­en eben nicht richtig oder unvollstän­dig. Ich bin deshalb keine schlechte Mutter.«

Stefanie Kaps

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Foto: Getty Images Stefanie Kaps wünscht sich eine einheitlic­he Unterstütz­ung für Alleinerzi­ehende, ohne zahllose Anträge für jede Einzelheit ausfüllen zu müssen.
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Foto: privat Stefanie Kaps

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