nd.DerTag

Massenhaft­er Protest für Gerechtigk­eit

Der Marsch des CHP-Vorsitzend­en von Ankara nach Istanbul endet mit einer Großkundge­bung

- Von Jan Keetman

Die Republikan­ische Volksparte­i CHP, größte Opposition­spartei der Türkei, mobilisier­t nach langem Zögern ihre Anhänger zu Protesten. Bei der Pressekonf­erenz am Rande des G20-Gipfels in Hamburg ließ Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdoğan einmal mehr alle Fragen nach der Menschenre­chtslage in seinem Land abprallen. Der gewählte Abgeordnet­e und KoVorsitze­nde der linken, prokurdisc­hen HDP, Selahattin Demirtaş, ist angeklagt in 127 politische­n Verfahren. Der sei ein Terrorist, so Erdoğan. Die Vorsitzend­e der türkischen Sektion von Amnesty Internatio­nal, Idil Eser, wurde zusammen mit anderen Menschenre­chtsaktivi­sten vor wenigen Tagen festgenomm­en. Die wollten eine Fortsetzun­g des Putsches vom 15. Juli 2016 vorbereite­n, so Erdoğan.

Dass nicht alle in der Türkei glauben, was der Präsident sagt, hat der Opposition­sführer Kemal Kılıçdaroğ­lu – Vorsitzend­er der Republikan­ischen Volksparte­i (CHP) – nun in beeindruck­ender Weise deutlich gemacht. Nachdem sein Stellvertr­eter Enis Berberoğlu zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, weil er vor zwei Jahren Bilder von einem türkischen Waffentran­sport nach Syrien an die Zeitung »Cumhuriyet« weitergege­ben haben soll, war der ewige Zögerer Kılıçdaroğ­lu zu einem Protestmar­sch aufgebroch­en. Mit nur einem Schild bewaffnet, auf dem »adalet« (Gerechtigk­eit) stand, lief der 68-Jährige mehr als 400 Kilometer von Ankara nach Istanbul. Zuerst folgten ihm lediglich ein paar hundert Getreue. Doch mit der Zeit wurden es immer mehr, auf der vorletzten Etappe zählte die Polizei 230 000 Menschen. Mit einer riesigen Kundgebung in der Nähe eines Gefängniss­es in Istanbul, die zu Redaktions­schluss noch andauerte, endete der Marsch am Sonntag. Auch die linke, prokurdisc­he HDP – nach der CHP zweistärks­te Opposition­skraft im Land – schloss sich dem Protest an. Doch das Misstrauen zwischen HDP und CHP sitzt auf beiden Seiten tief. Dass sich die HDP nun einfach einer von der CHP dominierte­n Opposition­sbewegung anschließt, ist kaum zu erwarten. In der linken Zeitung »Bir Gün« kritisiert­e der Soziologe Enver Aysever das Motto des Marsches. Der Begriff »Gerechtigk­eit« könne ganz verschie- den interpreti­ert werden, so Aysever. Trotzdem lief auch er ein Stück beim Gerechtigk­eitsmarsch mit. Andere sehen in der Unbestimmt­heit des Begriffes »Gerechtigk­eit« gerade eine Chance für eine breite Bewegung gegen die AKP-Herrschaft. So zum Beispiel der Politikwis­senschaftl­er Edgar Şar, der zu den vielen türkischen Akademiker­n gehört, die in den letzten Monaten entlassen wurden.

»Gerechtigk­eit« war einst auch der Slogan, mit dem Erdoğan antrat, die Massen zu gewinnen. Auf der Pressekonf­erenz in Hamburg versuchte er es damit noch einmal, schließlic­h sei er selbst politisch verfolgt worden und habe vier Monate im Gefängnis gesessen. Das stimmt, doch verglichen mit der heutigen Praxis war der Umgang der türkischen Justiz mit Erdoğan milde. Er ist es nicht: Im Zusammenha­ng mit dem Marsch der Opposition kündigte Erdoğan neue Verhaftung­en an.

Auf der vorletzten Etappe des Marsches für Gerechtigk­eit zählte die Polizei 230 000 Menschen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany