nd.DerTag

Spätes Erwachen

Nelli Tügel über die Tragik des Massenprot­estes in der Türkei

-

Die CHP – Partei der entmachtet­en kemalistis­chen Eliten und größte Opposition­sgruppe in der Türkei – marschiert­e drei Wochen lang von Ankara nach Istanbul. Ihr Vorsitzend­er Kemal Kılıçdaroğ­lu war aufgebroch­en, nachdem mit seinem Stellvertr­eter Beberoğlu erstmals auch ein CHPAbgeord­neter vor Gericht gestellt und zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war. Zehntausen­de schlossen sich Kılıçdaroğ­lus Protestmar­sch an, der am Sonntag mit einer Kundgebung in Istanbul endete. Das ist eine starke, hoffnungsp­endende Machtdemon­stration – und zugleich tragisch. Warum? Weil der Protest reichlich spät kommt. Und weil es die CHP war, die durch ihre Unterwürfi­gkeit gegenüber Erdoğan und durch ihren türkischen Nationalis­mus die Opposition zunächst geschwächt hat. Sie stand hinter der AKP, als 2015 der Krieg gegen die Kurden wieder aufgenomme­n wurde. CHP-Abgeordnet­e stimmten 2016 für die Aufhebung der Immunität von linken, prokurdisc­hen HDP-Parlamenta­riern.

Trotzdem beteiligte sich auch die HDP an dem Protestmar­sch und der Kundgebung am Sonntag. Die CHP ergreift die ihr ausgestrec­kte Hand zwar nur widerwilli­g, doch immerhin schlägt sie sie nicht aus. Die Frage ist nur: Kann Erdoğan jetzt noch gestoppt werden? Zehntausen­de sitzen bereits in den Gefängniss­en, unter ihnen viele HDP-Politiker. Hätte, hätte Fahrradket­te hilft da auch nicht weiter. Aber es drängt sich doch unweigerli­ch der Gedanke auf, was möglich gewesen wäre, hätte sich die CHP früher für Protest entschiede­n. Und dieser Gedanke ist nur schwer erträglich.

Newspapers in German

Newspapers from Germany