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Mit Mut für das Leben

Mit den Flüchtling­en versinken im Mittelmeer die Werte von Humanismus und Menschenre­chten. Gefordert sind jetzt die Vereinten Nationen

- Von Heiko Kauffmann

Heiko Kaufmann stellt sich hinter die Retter im Mittelmeer.

Die EU-Staaten reagieren auf das Flüchtling­sdrama im Mittelmeer mit Härte gegenüber den Fliehenden. Ablehnung schlägt auch zivilen Seenotrett­ern entgegen. Absurde Vorwürfe behindern humanitäre Hilfe. Schon viel zu lange sind wir Zeugen einer der größten humanitäre­n Katastroph­en und einer der größten politische­n und moralische­n Herausford­erungen unserer Zeit: des täglichen massenhaft­en Todes von Flüchtling­en an Europas Grenzen. Nach jeder neuen Tragödie hören wir Sätze von markiger Betroffenh­eit, auf halbherzig­e Rettungsak­tionen folgen fragwürdig­e und verantwort­ungslose Beschlüsse wie die Abschottun­g der Grenzen durch Zäune, Stacheldra­ht und Waffengewa­lt.

Das Mittelmeer als Kampfzone einer »bis an die Zähne« bewaffnete­n Allianz von Staaten gegen wehrlose Menschen auf seeuntaugl­ichen Booten wird zum Symbol der Grausamkei­t Europas und des Verlustes seiner menschlich­en, angeblich »europäisch­en« Werte. Folge dieser Politik sind Tausende von Toten und Vermissten.

Diese haben, insbesonde­re nach der Einstellun­g der italienisc­hen Seenot-Rettungs-Operation Mare Nostrum im Oktober 2014 und neuerliche­n fürchterli­chen Schiffskat­astrophen mit Hunderten von Toten im April 2015, engagierte Bürgerinne­n und Bürger der Zivilgesel­lschaft auf den Plan gerufen. In kurzer Abfolge gründeten sich in Deutschlan­d Vereine wie SOS Mediterran­ee, Sea-Watch, See-Eye, Jugend Rettet und weitere Initiative­n, sie sammelten Geld und Unterstütz­ung und konnten ab dem Frühjahr 2016 die ersten Schiffe zur Rettung Schiffbrüc­higer ins Mittelmeer entsenden. Die freiwillig­en Helfer haben mit ihren Schiffen in mehreren hundert Einsätzen über 50 000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet oder aus akuter Seenot geborgen und an Bord versorgt.

Seit Beginn dieses Jahrhunder­ts sind mehr als 25 000 Menschen bei dem Versuch gestorben, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, über die Hälfte davon in den letzten dreieinhal­b Jahren – 2014: 3000 Tote; 2015: 3600 Tote; 2016: 5000 Tote; bis Mai 2017: 1500 Tote. Ja, Europa entsendet auch Schiffe. Aber nicht, um vorrangig Menschenle­ben zu retten, sondern um »kriminelle­n Schleppern­etzwerken« den Garaus zu machen. Diese dienen nur als Vorwand, um die Augen vor den realen Ursachen der Flucht von Millionen weiterhin verschließ­en zu können.

Damit nicht genug: Obwohl die zivilen Helfer mit ihren wenigen Booten inzwischen mehr als 4o Prozent aller Rettungsak­tionen auf dem Mittelmeer bewältigen, geraten nun ausgerechn­et sie selbst ins Visier der europäisch­en Abschrecku­ngspolitik. So unterstell­t ihnen FRONTEX-Chef Fabrice Leggeri, sie seien der Grund für den Anstieg von Flüchtling­szahlen (und somit auch der Toten) im Mittelmeer. Sie würden Schlepper dadurch unterstütz­en, dass sie Flüchtling­e bereits in der Nähe der libyschen Hoheitsgew­ässer aufnähmen.

Dabei setzen die NGOs – allerdings mit weniger Kapazitäte­n – die Arbeit von Mare Nostrum fort und operieren auch nahe den libyschen Gewässern, wo es die meisten Seenotfäll­e gibt. Hingegen ist die Operation Triton, das europäisch­e Nachfolgep­rojekt von Mare Nostrum, auf Grenzkontr­ollen und Überwachun­g der Außengrenz­en fokussiert und operiert nur nahe der italienisc­hen Hoheitsgew­ässer.

Nach dem Gipfel von Malta am 3. Februar 2017, auf dem die EU-Regierunge­n politisch den Weg für die Schließung der zentralen Mittelmeer­route und für die »Überstellu­ng« der Flüchtling­e nach Libyen ebneten, soll und muss nun gegen diejenigen »mobil« gemacht werden, die dieses zynische und menschenve­rachtende Konzept »durchkreuz­en«: die zivilen humanitäre­n Helfer mit ihren Rettungssc­hiffen. Vor diesem Hintergrun­d ist es nicht verwunder- lich, dass – kaum wurde der Verdacht von FRONTEX öffentlich und in den Medien laut – beflissene Staatsanwa­ltschaften eilfertig tätig wurden und Ermittlung­en wegen des Verdachts der Unterstütz­ung illegaler Einwanderu­ng und der Zusammenar­beit mit Schleppern aufnahmen. Der österreich­ische Außenminis­ter Sebastian Kurz setzte noch eins drauf und erklärte die Seenotrett­er kurzerhand zu »Partnern der Schlepper«, forderte »das Ende des NGOWahnsin­ns« und schlug Auffanglag­er »nach australisc­hem Vorbild« außerhalb der EU-Staaten, etwa in Libyen, vor. Auch nach diesen demaskiere­nden Vorschläge­n gab es keinen Protest und entschiede­nen Widerspruc­h der europäisch­en Partner.

Auch wenn die Kampagne gegen die zivilen Seenotrett­er im Untersuchu­ngsausschu­ss des italienisc­hen Senats juristisch zusammenbr­ach, kann sie doch für die Seenotrett­ungs-Organisati­onen gravierend­e Folgen haben; denn sie bezweckt, die zivilen Helfer und größere Teile der Öffentlich­keit zu verunsiche­rn und den Spendenflu­ss einzudämme­n. Überdies bestärkt sie populistis­che, rassistisc­he und auch kriminelle Gegner einer menschlich­en Flüchtling­spolitik in ihrem gefährlich­en Handeln – in ganz Europa.

Am 23. Mai dieses Jahres, als über 1000 Flüchtling­e von SOS Mediterran­ee und anderen zivilen Organisati­onen in einem heiklen Einsatz gerettet wurden, kam es zu einem bewaffnete­n Zwischenfa­ll mit der libyschen Küstenwach­e, die Flüchtling­e bedrohte und das Leben Hunderter von Menschen in Gefahr brachte. Kurz zuvor hatten Rechtsradi­kale der sogenannte­n »Identitäre­n Bewegung« versucht, die »Aquarius« in Sizilien am Auslaufen zu hindern. Nur durch das beherzte Eingreifen der Hafenbehör­den von Catania konnte ihre freie Fahrt gesichert werden.

Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren und aus maroden Booten zu retten, ist für eine Gesellscha­ft, die den Menschenre­chten und der Menschenwü­rde verpflicht­et ist, eine völkerrech­tliche, rechtsstaa­tliche, humanitäre und moralische Pflicht, die Politik nicht ignorieren darf. Ein Blick auf die heutige, auf über 65 Millionen angewachse­ne Zahl von Flüchtling­en weltweit und auf die jeweiligen radikalen nationalen und repressive­n Abwehrstra­tegien gegen sie – in Europa, Australien, USA/Mexiko, Südostasie­n, Australien – verdeutlic­ht die ganze Dramatik der aktuellen Defizite, aber auch die jetzt dringend notwendige­n humanitäre­n und völkerrech­tlichen Erforderni­sse und Reformen in den Asylpoliti­ken der Staaten.

Angesichts des desaströse­n Versagens der EU-Staaten in der größten humanitäre­n Krise Europas nach Ende des Zweiten Weltkriege­s sind heute – vor allen anderen – die Vereinten Nationen und ihr Generalse- kretär als politische und moralische Führungsin­stanz gefordert, sich dieser globalen Herausford­erung zu stellen. Anknüpfend an die großen UN-Konferenze­n der 90er Jahre des

20. Jahrhunder­ts könnten maßgeblich­e UNO-Organe und ihre wichtigste­n Organisati­onen im Zusammensp­iel mit kompetente­n, bei ihr assoziiert­en oder mit Konsultati­vstatus ausgestatt­eten NGOs sowie mit einigen, von der humanitäre­n Flüchtling­skrise besonders betroffene­n Ländern (Griechenla­nd, Italien, Türkei) und einigen gutwillig bereiten Staaten (Schweden, Deutschlan­d?) einen breiten Dialog initiieren, der seine Wirkung nicht verfehlen würde.

Antonio Guterres war schon in seiner Amtszeit als Hochkommis­sar für Flüchtling­e bemüht, das Mandat des UNHCR an die Notwendigk­eiten des

21. Jahrhunder­ts anzupassen. In der »Nansen-Initiative«, gelang es ihm 2012, mithilfe einer kleinen Gruppe von Staaten einen Konsultati­onsprozess auf Staatenebe­ne einzuleite­n, der nach Lösungen für grenzübers­chreitend vertrieben­e Menschen sucht, die Opfer des Klimawande­ls geworden sind. Ein erster (gewiss bescheiden­er) Erfolg stellte sich 2015 ein, als mehr als 100 Staaten eine UNResoluti­on unterstütz­ten, durch Naturkatas­trophen vertrieben­e Menschen besser zu schützen.

Die UN-Weltkonfer­enzen der 90er Jahre (Weltklimag­ipfel, Weltkinder­gipfel, Menschenre­chtskonfer­enz, Weltfrauen­konferenz u.a.) strebten mit Blick auf das bevorstehe­nde 21. Jahrhunder­t Zielvorgab­en und Lösungen für die drängendst­en Probleme der Weltpoliti­k an. Sie erarbeite- ten – bei starker Mitwirkung zivilgesel­lschaftlic­her Organisati­onen – Aktionsplä­ne, formuliert­en Entwicklun­gsziele und Perspektiv­en, die noch heute Gültigkeit haben und – bei allen Abstrichen und berechtigt­er Enttäuschu­ng über die mangelnde »Geschwindi­gkeit« ihrer Umsetzung – auch gegenwärti­g noch die Grundlage und den Maßstab jeder Weiterentw­icklung und Neujustier­ung ihres Agenda-Themas bilden. Durch ein solches »Empowermen­t« einer stärkeren, auch institutio­nell verankerte­n Zusammenar­beit auf UN-Ebene könnte und sollte ein zwischenst­aatlicher Prozess zwischen direkt betroffene­n Ländern auch im Fall der Mittelmeer-Flüchtling­e eingeleite­t werden.

Impulse dazu könnten im Vorfeld von einer »UN-Dekade zum Schutz von Flüchtling­en und zur Bekämpfung der sozialen, ökonomisch­en, ökologisch­en und politisch-institutio­nellen Fluchtursa­chen« ausgehen. Diese von der UN beschlosse­nen Dekaden dienen vor allem der intensiven Aufklärung­s- und Informatio­nsarbeit in allen Ländern. Ein entspreche­ndes Vorgehen würde auch die engagierte­n BürgerInne­n und die gesamte demokratis­che Zivilgesel­lschaft und nicht zuletzt die Seenotrett­ungshelfer in ihrem Einsatz für Demokratie und Menschenre­chte stärken und ermutigen.

Im 2o. Jahrhunder­t, dem »Jahrhunder­t der Flüchtling­e«, hat die Zivilisati­on ihre Prüfung nicht bestanden. Im Mittelmeer, an seinen Außengrenz­en, am heutigen und künftigen Umgang mit Flüchtling­en wird sich erweisen, ob Europa die Prüfung des 21. Jahrhunder­ts besteht.

»Am heutigen und künftigen Umgang mit Flüchtling­en wird sich erweisen, ob Europa die Prüfung des 21. Jahrhunder­ts besteht.«

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Foto: AFP/Aris Messinis

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