Über Blockaden, Krawalle und Solidarität
Wie Protestforscher und linke Politiker die G20-Proteste, die Polizeitaktik und die Randale bewerten
Nach den Krawallen im Hamburger Schanzenviertel haben am Samstag Zehntausende gegen die Politik der G20 demonstriert. Das macht manchen Linken Hoffnung. Jan van Aken strahlt über das ganze Gesicht. »Wir sind tatsächlich handgezählte 76 000 Menschen hier«, sagt der Bundestagsabgeordnete der Linkspartei auf dem Millerntorplatz. »Das ist die größte Demonstration in Hamburg seit 30 Jahren. Besser geht’s nicht.« Dem Aufruf von Linkspartei, Attac und diversen linken Initiativen waren am Samstag viele Hamburger mit ihren Kindern gefolgt, alte und junge Globalisierungskritiker, viele Linksradikale. Demonstriert wurde gegen Aufrüstung und Krieg, für offene Grenzen, gegen Freihandelsabkommen, für kurdische Autonomie in Rojava und für eine gerechtere Weltordnung.
»Egal, wie unterschiedlich die Regierungsspitzen der G20 auftreten mögen – sie alle eint eine Geschäftsordnung«, fasste die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, den Protest zusammen: »Sie stellen Profite vor Menschen. Für uns gilt: Menschen vor Profite!« Werner Rätz von Attac ist nach der Großdemonstration zufrieden: »Die Protestwoche ist insgesamt ein Erfolg – auch wenn einige Dinge passiert sind, mit denen wir nicht gerechnet hatten.«
Dazu zählt Rätz vor allem das harte Vorgehen der Polizei. Dabei hatte sich dieses bereits vor den Protesten angekündigt: mit dem Erlass einer Verbotszone für die Innenstadt. Mit dem Verhalten der Versammlungsbehörde, die von Anfang an klar machte, dass sie kein Protestcamp in Hamburg dulden werde. Mit der polizeilichen Blockade des Camps in Entenwerder, obwohl dieses gerichtlich erlaubt worden war – und mit dem harten Pfeffersprayeinsatz gegen die Camper, als das Gericht es doch wieder verbot. »Einsatzleiter Hartmut Dudde, schaltet und waltet offenbar völlig losgelöst von jedem Recht. Man kann es nicht anders sagen: Hamburg ist zurzeit ein Polizeistaat«, sagte die Hamburger Abgeordnete der Linkspartei, Sabine Boeddinghaus.
Diese Analyse festigte sich bei Protestforschern und Beobachtern während der Protestwoche. »Die Versammlungsfreiheit als Grund- und Menschenrecht galt in Hamburg nicht«, bilanziert das Komitee für Grundrechte. »Wir haben beobachtet, in welchem Maße die Polizei in diesen Tagen die Macht über das Geschehen in der Stadt übernommen hat. Sie hat eskaliert, Bürger- und Menschenrechte ignoriert, sie informierte die Öffentlichkeit falsch und ging mit großer Gewalt gegen die Menschen vor.« Auch der Bewegungsforscher Peter Ullrich zieht die- ses Fazit. »Die Polizei hat offensichtlich freie Hand bekommen von der Bundes- und Landespolitik«. Hintergrund dieses Freischeins sei die politische Entscheidung, der Durchsetzung des Gipfels höchste Priorität einzuräumen. Dafür sei die Versammlungsfreiheit »deutlich heruntergestuft« worden. Die Polizeieinsätze erinnerten dabei an die 1960er Jahre: »Sobald etwas nicht zulässig war, etwa Vermummung, wurde drauf gehauen.«
Ullrich bezieht sich dabei auf die linksradikale Welcome-to-hell-Demonstration am Donnerstag. Die Polizei hatte den gesamten Zug aufgehalten, mit der Begründung, es hiel- ten sich 1000 Vermummte darin auf. »Der Großteil der Leute hatte die Vermummung längst abgenommen«, berichtete die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Sabine Leidig. Die Polizei griff die Demonstranten dennoch mit Pfefferspray und Wasserwerfern an. Auch Reporter von NDR, Deutschlandfunk und Spiegel berichteten, dass es die Polizei war, die die Situation eskalieren ließ. Elke Steven vom Komitee für Grundrechte zeigte sich empört. »Das Vorgehen der Beamten hatte mit einem rechtsstaatlichen Vorgehen nichts mehr zu tun.« In mehreren Situationen habe die Polizei gezielt Panik ausgelöst. Das sei hochgefährlich gewesen.
Die Polizei änderte ihr Vorgehen nicht. Als am Freitag rund 10 000 Aktivisten Sitzblockaden gegen den Gipfel errichteten, ging sie mit Wasserwerfern gegen die Sitzenden vor, mit Knüppeln und Pfefferspray. Mehrere Journalisten, darunter zwei »nd«Reporter, wurden ebenfalls geschlagen. »Journalisten, Anwälte, Sanitäter, alle Gruppen, die zur Durchsetzung von Bürgerrechten notwendig sind, wurden von der Polizei angegriffen«, berichtete Steven.
Werner Rätz von Attac zog mit Blick auf die Blockaden dennoch ein positives Fazit: »Hochrangige Politiker wie Wolfgang Schäuble oder Melania Trump mussten ihre Termine absagen. Die Blockaden waren erfolgreich.« Die politische Kritik am G20-Gipfel spielte in der Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt jedoch kaum eine Rolle. Das sei bei Großprotesten häufig so, sagt Ullrich – »ungewöhnlich war diesmal, dass es dabei viele polizeikritische Berichte gab. Die Polizei hat es einfach übertrieben.« Doch diese Perspektive sei mit der Krawallnacht gekippt.
Die Unruhen im Schanzenviertel löste auch unter Linken Ärger aus. »Diese Nacht konnte niemand gebrauchen«, sagt Rätz von Attac, »die Randale war total sinnfrei. Und jetzt haben wir das Problem, dass die Krawalle und unsere erfolgreichen Blockaden medial als ›die Proteste‹ zusammengefasst werden.« Protestforscher Ullrich wird richtig sauer: »Das Ritual der Krawalle ist nicht politisch, das waren Testosteron-geladene Männer, die wild durch die Gegend ballerten, ohne Sinn und Zweck, das hat auch den Gipfel nicht behindert.« Die Randalierer hätten den Protestierenden einen Bärendienst erwiesen.
Warum strahlte Jan van Aken dann so? Weil die Geschichte der Gipfelproteste nicht im Schanzenviertel endete. »Das, was wir jetzt erleben, ist der große linke Zusammenschluss, wir sind fast 100 000 Leute!«, freute sich auch der Philosoph Thomas Seibert hinter dem Fronttransparent auf der Großdemo. »Das brutale Vorgehen der Polizei hat zu einer großen Solidarisierung geführt.« Auch Rätz sieht das so. Die Linke habe vor den Protesten einen Eindruck der Spaltung gemacht – es gab kein gemeinsames Bündnis, jedes Spektrum organisierte seine eigene Demo. Unter den Angriffen der Polizei und von Innensenator Andy Grote (SPD) habe man jedoch wieder zusammen gefunden. »Von der Protestwelle über die Linksradikalen bis zur LINKEN: Das Vertrauen unter uns ist wieder stark gewachsen.« Auch vonseiten der Hamburger Zivilgesellschaft habe er viel Solidarität erfahren, politische Diskussionen, Angebote von Unterkünften, Beteiligung an der Demonstration.
Wie viel aber ist von der Kritik an G20 angekommen? Am Mittwoch erhielt van Aken in den Tagesthemen einige Minuten Zeit, seine Radikalkritik an der G20 darzulegen: Wenn über Afrika gesprochen werde und nur einer von 48 afrikanischen Staaten mit am Tisch sitze, sei das ein illegitimes Treffen. Die ARD-Kommentatorin legte anschließend dar, warum sie dafür ist, dass die G20 sich überhaupt trifft. Passiert nicht aller Tage. Peter Ullrich kann zum jetzigen Zeitpunkt schwer einschätzen, was hängen bleibt. Sein erster Eindruck: »Wenn die Kritik auch oft reduziert war auf Trump und Putin, das Grundanliegen der Proteste wurde vielfach geteilt.«
»Das Ritual der Krawalle ist nicht politisch, das waren Testosterongeladene Männer.« Protestforscher Peter Ullrich