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Geheim für 120 Jahre

Hessens Landesregi­erung verweigert transparen­te Aufklärung der NSU-Verbrechen

- Von Hans-Gerd Öfinger, Wiesbaden

Ende 2018 wird im Sechs-Millionen-Land Hessen ein neuer Landtag gewählt. Dringende Fragen stellen sich im Hinblick auf den aktuellen Premier als ehemaligen Innenminis­ter. Rund ein halbes Jahr Zeit bleibt dem NSU-Untersuchu­ngsausschu­ss des Hessischen Landtags noch, um aus meterlange­n Aktenordne­rn und weiteren Zeugenbefr­agungen Details wie Mosaikstei­nchen zusammenzu­tragen. Der Abschlussb­ericht soll Anfang 2018 zu Papier gebracht werden. Bis dahin muss die Rolle der Sicherheit­sbehörden im Zusammenha­ng mit dem Kasseler NSU-Mord an dem Internetca­fébetreibe­r Halit Yozgat im Frühjahr 2006 ausgeleuch­tet sein.

Wie weit die fünf Landtagsfr­aktionen bei der Erstellung des Abschlussb­erichts tatsächlic­h an einem Strang ziehen werden, muss sich zeigen. Schon bei der Beschlussf­assung über die vor allem von der Linksfrakt­ion vorangetri­ebene und von der SPD unterstütz­te Einsetzung des Untersuchu­ngsausschu­sses stach im Vergleich mit dem Bundestag und anderen Landtagen eine hessische Besonderhe­it hervor. Hier enthielten sich die Koalitionä­re CDU und Grüne der Stimme. Regierungs­chef Volker Bouffier (CDU), der von 1999 bis 2010 Innenminis­ter und oberster Dienstherr von Polizei und Landesamt für Verfassung­sschutz (LfV) war, will wieder als Spitzenkan­didat seiner Partei antreten. Zweifel an seiner Rolle rund um den Kasseler Mord 2006 und die Frage, ob er durch persönlich­e Interventi­on die Ermittlung­en behindert hat, kommen ihm dabei ungelegen.

Als Bouffier Ende Juni vor dem Ausschuss Fragen beantworte­te, konnte er nach Ansicht vieler Beobachter genau solche Zweifel nicht ausräumen. Auch wenn er weit von sich wies, den am Tatort in Kassel anwesenden und zeitweise unter Mord- verdacht stehenden ehemaligen Verfassung­sschutzmit­arbeiter und VMann-Führer Andreas Temme persönlich gekannt und protegiert zu haben, hinterließ er bei aufmerksam­en Zuhörern den Eindruck eines Man- Hermann Schaus, Obmann der Linksfrakt­ion

nes, der zumindest den Laden »nicht im Griff« hatte, im schlimmste­n Falle jedoch keinerlei Interesse an einer vollen Aufklärung hat.

»Die zu Tage getretenen Erkenntnis­se über Waffen- und Sprengstof­fbesitz der rechten Szene in Hessen sind erschrecke­nd. Noch erschrecke­nder ist aber, dass der Verfassung­sschutz vielen Verdachtsf­ällen offenbar nicht nachging«, kommentier­te der Wiesbadene­r DGB-Gewerkscha­ftssekretä­r Sascha Schmidt die Meldung über Waffen- und Sprengstof­ffunde seit 1992. »Der Öffentlich­keit wurde stattdesse­n über Jahre erzählt, in Hessen gäbe es keine ernstzuneh­mende Szene. Wenn Bouffier dies als erfolgreic­he Arbeit verkaufen möchte, grenzt das schon an einen Skandal«, so der Gewerkscha­fter und langjährig­e Kenner der Szene.

Jüngst wurde bekannt, dass das LfV schon 1999 Hinweise auf militante Strukturen eines »Nationalen Untergrund­s« und auf »Nationalso­zialistisc­he Untergrund­kämpfer« hatte. Seit Anfang der 2000er Jahre lagen 250 Hinweise auf das NSU-Umfeld und mögliche Verbindung­en hessischer Neonazis zum NSU vor. In keinem veröffentl­ichten Verfassung­sschutzber­icht oder Statement der Landesregi­erung und in keiner Aussage im NSU-Ausschuss sei jemals darauf hingewiese­n worden, kritisiert der Abgeordnet­e Hermann Schaus (LINKE). Gleichzeit­ig seien 541 Aktenstück­e über Rechtsextr­eme verschwund­en. »Noch immer müssen wir um jedes Blatt Papier kämpfen. Freiwillig rücken Verfassung­sschutz und Landesregi­erung nichts heraus«, so Schaus.

Eine sofortige Veröffentl­ichung des bisher strikt geheim gehaltenen LfVUntersu­chungsberi­chtes zur hessischen Naziszene in den Jahren 1992 bis 2012 verlangt auch die unabhängig­e Beobachtun­gsstelle NSU-Watch Hessen. Teile dieses Berichts wurden jedoch vom LfV für 120 Jahre als »geheim« eingestuft. Man wolle auch die Nachfahren der Informante­n schützen, argumentie­rt Innenminis­ter Peter Beuth (CDU). »Die Öffentlich­keit hat ein Recht zu erfahren, ob das hessische LfV eine Gelegenhei­t verpasst hat, die NSU-Morde zu verhindern, und ob womöglich weitere Rechtsterr­oristInnen im Untergrund waren«, so Sarah Müller von NSU-Watch.

»Noch immer müssen wir um jedes Blatt Papier kämpfen. Freiwillig rücken Verfassung­sschutz und Landesregi­erung nichts heraus.«

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