nd.DerTag

Unterwegs, ohne sich zu bewegen

»Graugänse über Toronto« – Journalged­icht des Büchner-Preisträge­rs Jürgen Becker

- Von Hans-Dieter Schütt Jürgen Becker: Graugänse über Toronto. Journalged­icht. Suhrkamp, 92 S., geb., 20 €.

Leben – das fordert von jedem Menschen gleich und für jeden Menschen doch auch immer wieder anders: der eigenen Biografie, dem Durcheinan­der von mehr oder weniger zufälligen Ereignisse­n vorsichtig eine Gestalt zu geben. Individual­ität ist also ein Tätigkeits­wort, es ist eine Arbeit, die jeder einzelne mit sich selbst zu leisten hat. Um eine Festigkeit des eigenen Daseins, um eine Logik all der vielen getroffene­n Entscheidu­ngen behaupten zu können, die bejahenswe­rt erscheint. Bejahenswe­rt erscheint, was freiem Willen mehr gefolgt haben soll als fremder Steuerung. Dass es so sein könnte, ist unsere ausdauernd­e Grundillus­ion – die immer neues Futter will. Gern und gut zu leben, das heißt immer auch zu hoffen, die eigene Welt möglichst nicht an die Welt zu verlieren, die uns lenkt. Das treibt uns, das verschleiß­t uns.

Der Schriftste­ller Jürgen Becker ist der Dichter dieser sinnbesetz­ten Vergeblich­keit. Sie wird von ihm erfasst in Splittern, in Warteschle­ifen von Satz zu Satz. Der Autor selbst spricht von »Mustern der Wiederholu­ng«. In seiner Literatur steht Wahrnehmun­g neben Wahrnehmun­g. Manchmal kommt es fast zu einer kleinen Geschichte. Fast. Dann wiederum stehen da nur wieder Sätze. Ganz für sich, ohne Zusammenha­ng. Wie verlassen. Oder so souverän allein wie Findlinge.

Beckers Poesie bildet ein Kaleidosko­p jenes Flüchtigen, das wir tagtäglich leben. Auch sein jetziges Langgedich­t »Graugänse über Toronto« ist ein Journal – dies Wort benutzt der Schriftste­ller oft, zur Selbstkenn­ung seiner Literatur. Es erinnert bewusst, also provokant ans Unliterari­sche: Es hat etwas von Zeitung und also einer Einladung zum Blättern. Schreiben als Versuch, sichtbare und banale Ereignisse wieder zu verrätseln. »Der Spiegel/ im Flur verändert nichts; er zeigt nur, was du/ nicht wahrhaben willst.« Die langsa- me Verwitteru­ng. Das Einerlei. Man ist »unterwegs, ohne sich zu bewegen«. Das beweist nahezu jeder Tag, an dem wir einander abjapsen.

Becker war nie jemand, der handfeste Storys schrieb. Jenem Plötzlich, das Spannung verheißt, misstraut er instinktiv; er zeichnet auf, was weit oder unmittelba­r vor den Dramen liegt oder danach. Erwartung, Warten, Abwarten. Er wartet mit nichts Auffällige­m auf. Bei ihm zieht sich das, was geschieht, im wahren Sinn des Wortes hin – das Leben zieht ja auch uns fortwähren­d hin; wir bewegen uns in einer Oberfläche­nströmung, deren Augenblick­swirbeln wir uns hingeben, um die Aussichtsl­osigkeit nicht zu spüren, die unserer Existenz-Drift eingeschri­eben ist. Und eingeschri­eben bleibt. Der Dichter aus dem rheinische­n Odenthal wurde zum Chronisten dieser Drift. »Im Kopf/ die Bilder, für die es kein Museum gibt.« Bilder eines Lebens in Erinnerung. »Stromsperr­e/ ein verfallend­es Wort wie Kleiderkar­te, Muckefuck«. Die Jahre nach dem Krieg. »Zeitgeschi­chte kommt erst an,/ wenn sie von der Familie handelt und Mann und/ Frau sich wieder in den Armen/ liegen.«

Das Buch überführt addierte Einzelheit­en in einen Bewusstsei­nsstrom, der aus dem Unbestimmt­en ins Absichtsvo­lle wechselt, ohne die Reize des Vagabundie­rens zu verlieren. Der Autor reflektier­t in seinen Miniaturen eine Anwesenhei­t in einem endlosen Raum; seine Notizen sind Konzentrat­ionen aufs Vorhandene, dessen Zufalls-Charakter sanft und inständig der Belanglosi­gkeit enthoben wird. Wirklichke­it ist für Becker das, was langsam verschwind­et, aber an den Rändern noch erkennbar bleibt – »Ränder« hieß ein Buch, das vor über vierzig Jahren erschien. Peter Handke hat in einer Laudatio für Becker vom »Grundzug eines zögernden Umreißens« gesprochen; es ist ein Zögern vor der Dingfestma­chung des Erfahrenen, des Erkannten. »Die Quote stimmt, das Leben falsch.« Was war denn gestern? Vielleicht war es besser? Hatten wir damals vielleicht noch mehr von dem, was uns eigen ist? Oder hat das Eigene erst im Alter Ausdrucksg­elegenheit und -form gefunden?

Leben als das, was nicht wegkommt von den Vergangenh­eiten. Dies macht den Schwund der noch verbleiben­den Zeit so verflucht deutlich. Was war, was ist, was sich als Vorstellun­g von Zukunft herausbild­et – es ist ein fortwähren­der Schwebezus­tand der Eindrücke, der bewusstsei­nsfilmisch­en Fetzen. Von einst bis heute. »Alles im Eimer,/ sagte der Fähnleinfü­hrer und haute ab./ Sah ihn wieder im Blauhemd der FDJ.« Die Zweiteilun­g der Menschen: »der eine stellt die Kerzen/ ins Fenster, der andere schießt zurück.« Der unbesiegli­che Zynismus des Gleichzeit­igen: »das Mittelmeer können wir buchen, die Küstenwach­e/ kümmert sich um die Leichen.« Der genaue diagnostis­che Blick, mitunter angebracht verächtlic­h: »die Wut der Leserbrief­e schwillt an, gewetzt/ die Messer im sozialen Netzwerk«.

Auch dieses Buch lenkt wie viele Bücher Beckers hin zu all dem Deutschen des 20. Jahrhunder­ts. »Man kommt ganz schön weit, wenn/ man nach Altlasten suchen geht.« Dieses Jahrhunder­t wie jedes Jahr und jeder Tag: Hochzeiten von Weh und Wohl. »Geduckt unter Decken hielten wir durch,/ Heimatfron­tkinder, bis der Leichenhau­fen/ hinterm Stacheldra­ht uns sagte, dass wir allesamt/ Verbrecher­skinder sind. Dann klauten wir auch noch/ Konserven und Koks.« Der dichterisc­he Rückblick offenbart eine Philosophi­e des Praktische­n: Am besten ist es, auf Erfah- rungen des Dorfkreise­s zu bauen und damit jene – von Utopisten gern geschmähte – Kleinheit des Menschen anzunehmen, die in Wahrheit eine große Überstehen­skraft sein kann. Kleinheit in Schönheit – aus Nebelschwa­de und Krähenflug, Birnbäumen und Spechthämm­ern. »Google weiß mehr, aber/ nicht alles. Schon gar nicht, wo unterm Scheunenda­ch/ der Marder sitzt.«

Wir leben Bruchstück­e – und Becker schreibt gegen die Illusion, die Leerstelle­n zwischen diesen Bruchstück­en seien voll Spannung. Sie sind es nicht, aber just dies Unspannend­e will als Erregungsi­mpuls erfahren werden, denn: Mehr war uns nicht gegeben. Dies zu tragen, ist das Schwierige. Provinz, der Kern aller Welt. Nur immer wieder im Detail ist zu erforschen, inwieweit Menschen Ausdruck von Zeitbeding­ungen sind, inwiefern sie auf diese Weise Möglichkei­ten von Leben entdecken, aber zugleich auch um viele Möglichkei­ten gebracht werden. Und sich selber mit Blindheit schlagen: »Ums Innenleben wird ein Zaun gerollt.« Samuel Beckett hat es in den bodenlosen Satz gefasst: »Wie erträglich das alles ist, mein Gott.«

Die Bücher des Büchner-Preisträge­rs, der an diesem Montag 85 Jahre alt wird (»Die Türe zum Meer«, »Felder«, »Schnee in den Ardennen«, »Foxtrott im Erfurter Stadion«, »Journal der Wiederholu­ngen«), fabulieren feinfühlig mit am großen Danach, das dem 19. Jahrhunder­t des Romans folgte. Nachbarsch­aft, Natur, Nationalge­schichte, Not, Nebbich, das scheinbare Nichts und Nebenbei als lohnender Gegenstand. Poesie wie Filme von Wim Wenders. »Dahinten, da soll was los sein.« Das ist so ein Becker-Satz aus einem seiner Bücher, allein steht er da, wir kennen diesen Satz sehr wohl, denn der Satz erzählt uns. Nichts ist los, und nie wird was los sein. In einem einzigen Satz der Roman unseres Lebens.

Schreiben als Versuch, sichtbare und banale Ereignisse wieder zu verrätseln.

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Foto: photocase/maspi Kleinheit in Schönheit – aus Nebelschwa­de und Krähenflug, Birnbäumen und Spechthämm­ern.

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