Matrjoschka-Puppen und Rehragout
Der Wiener Autor Ferdinand Schmalz wurde mit dem Bachmann-Preis geehrt
America first« – auch in Klagenfurt? Nein! Der 1971 in Washington DC geborene, in Brooklyn lebende USAmerikaner John Wray wurde auf der Ziellinie von dem 1985 in Graz geborenen Wiener Ferdinand Schmalz abgefangen. Dramatisch war das für die Jurorin Sandra Kegel, die beide Autoren eingeladen hatte. Im Stechen musste sie sich zwischen beiden entscheiden. Ihre Wahl – und die der Mehrheit der Jury – fiel auf Schmalz. Der »Doppelsieg« der Literaturredakteurin der FAZ im Wettkampf der Juroren stand ja ohnehin fest.
Am heißen Klagenfurter Lesungsort brachte der Titel seines Textes einen Hauch von Abkühlung: »mein lieblingstier heißt winter«. Alles steht in Kleinschreibung – wie die ganze Geschichte von Franz Schlicht, einem Reisenden in Gefrierfrost. Einer seiner Stammkunden ist Dr. Schauer. Er ist auf Rehragout in tiefgefrorener Form abonniert. Alle zwei Wochen bezieht er diese eisige Leckermahlzeit. Als Franz Schlicht ihn das letzte Mal besucht, konfrontiert ihn Schauer mit einem absurden Anliegen: Er habe vor, sich das Leben in dem Tiefkühlschrank zu nehmen und Schlicht solle ihn später herausnehmen und unbemerkt irgendwo ablegen. Der Text verzichtet auf jede Form der Auseinandersetzung – also abgemacht! Als Schlicht einige Zeit später seinen Auftrag erfüllen will, findet er massenhaft das aufgetaute, nie verzehrte Rehragout, aber keinen Schauer in der Tiefkühltruhe. Der Autor trat mit Hut in den Lesering und veranlasste die Schweizer Jurorin Hildegard Keller zu dem schon den Bachmann-Preis vorwegnehmenden Satz: »Ich hoffe, Sie sehen, wie ich imaginär den Hut lüfte«. Der Text bestand aus einer Mischung von Heiterkeit und Ernsthaftigkeit. Die zwischen Schlicht und Dr. Scheuer aufgeworfene Frage, ob eigentlich der »natürliche« Tod natürlich sei und nicht der »unnatürliche Tod« der eigentlich richtige sei, dürfte philosophische Seminare noch beschäftigen, wie die Frage nach dem »richtigen« Leben im falschen oder umgekehrt.
Der Juryvorsitzende Hubert Winkel befand, der Text erschließe sich weniger über die Figuren, sondern eher über sich selber – eine der Weisheiten, die von allen Jurymitgliedern gelegentlich eingestreut wurden, ohne recht weiter zu führen.
Knapp unterlegen im Stechen also, der wie Gewinner Schmalz aus dem »Stall« der Sandra Kegel stammende, zweitplatzierte John Wray. In seinem Text »Madrigal« geht es um zwei Geschwister, die schlechte Gesprächspartner füreinander sind. Erschwerend kommt hinzu, dass beide Schriftsteller sind. Teddy verfällt in seine Endlosschleife über die ungerechtfertigte Bevorzugung eines anderen Autors durch die Kritik. Geschickt eingebaut hat der Autor den ungeschriebenen Roman von Teddys Schwester Maddy, in dem es wiederum um andere literarische Arbeiten geht: Wie bei den Matrjoschka-Puppen schachtelt sich Erzählung in Erzählung. Ganz geschmeidig hörte sich dieser Text im Vortrag des Routiniers Wray an, der über gute Einfälle bei der Wortfindung auch dem Ruhebedürfnis seines Publikums immer wieder überraschend Widerstand entgegensetzte, wenn er z.B. in einer der geschachtelten Geschichten eine »Kaltanruferin für ein Inkassounternehmen« erfand. Was man dem Text vielleicht entgegenhalten kann, ist seine Raffinesse, mit der er die Erwartungen der Jury und des Publikums bedient. Meike Fessmann nannte das »die besten Zutaten amerikanischer Literatur« man könnte auch »Matrjoschka vs. Barby« sagen.
Den mit 10 000 Euro dotierten Kelag-Preis erhielt der auch für vordere Plätze gehandelte, 1966 geborene Eckhart Nickel aus Frankfurt am Main. Er las auf Einladung des neu in die Jury aufgenommenen Zürcher Literaturredakteurs Michael Wiederstein und hat über Thomas Bernhard promoviert. Sein Text ist »Hysteria« überschrieben. Der Titel beschreibt ungenau die psychische Situation des Protagonisten, der zunächst an Himbeeren, später auch an anderen Din- gen und schließlich am eigenen Körper Verfärbungen und andere Veränderungen wahrnimmt. Entscheidend für die Qualität des preiswürdigen Textes ist die präzise Genauigkeit der Beobachtung und Beschreibung der Gegenstände, die ins mikroskopische Detail zu gehen scheint und die sich nicht im Handwerklichen erschöpft, sondern eine ästhetische Dimension im Zusammenspiel mit der Wahrnehmungsverdichtung seines verstörend genauen Hauptdarstellers annimmt.
Den 3sat-Preis in Höhe von 7500 Euro gewann die 1988 in Basel geborene Züricherin Gianna Molinari, die auf Einladung von Hildegard Keller las. Sie gehört der Kunstaktionsgruppe »Literatur für das, was passiert« an. Was gerade passiert, ist ein Flüchtling, der vom Himmel fällt, der einem Wachmann namens Lose begegnet, dessen Fabrik gerade geschlossen werden soll, aber nicht als ein stürzender Mensch gesehen wird. Viel Raum für Gedanken, die sich der Leser über diesen Text machen kann und sollte.
Schließlich wurde der Publikumspreis über das Internet, also nicht von der Jury ermittelt. Das ist oft das Ventil, aus dem Wahrheit pfeift, wie ein chinesisches Sprichwort sagt. Dieser mit einem Stadtschreiberstipendium der Stadt Klagenfurt verbundene Preis (7000 Euro plus Wert des Stadtschreibers, 5000 Euro) ging an die Wienerin Karin Peschka. Die 1967 geborene Autorin wurde von Stefan Gmünder mit ihrem Text »Wiener Kindl« eingeladen, einem postapokalyptischen Text, in dem nach der nicht näher beschriebenen Katastrophe ein Kind und ein Rudel Hunde übriggeblieben sind. Die müssen sich jetzt zu helfen wissen. Ob der Text wirklich »große Kunst« ist, wie Stefan Gmünder meint oder ob es stimmt, was sein Juror-Kollege Kastberger etwas süffisant einwarf, mag dahinstehen: »Generell gibt es zwei Orte für die Apokalypse: amerikanische Großstädte in Hollywood-Filmen oder Wien in literarischen Texten«.
Wenn der »Jahrgang« 2017 nicht alle Hoffnungen der Literaturfreunde erfüllte, lag das an den eingeladenen Texten und damit an den Einladenden, den Juroren, die jeder zwei Einladungen aussprechen können. Das Spiel »5 aus 14« geht eigentlich nur auf, wenn nicht nur fünf preiswürdige Texte gelesen werden sondern am besten vierzehn. Da fehlte diesmal wenigstens die Hälfte!