nd.DerTag

Ich und ihr, wir und du

Elton John gastierte in der Berliner Mehrzweckh­alle am Ostbahnhof

- Von Thomas Blum

Fast alle sind sie da: der Betriebswi­rt und die Zahnarzthe­lferin, die Rechtsanwä­ltin und der Verwaltung­sangestell­te, der Tanzlehrer und die Steuerbera­terin, der Busfahrer, die Studentin und Onkel Herbert. Manch anderer aber auch nicht, denn er kann sich die Eintrittsk­arte nicht leisten. Es ist ein Fest der Generation­en, wenn auch eher der älteren. Die Halle ist bestuhlt, die Stimmung so gesittet wie im Studio von Ilja Richters »Disco 79«. (Die Älteren werden verstehen, wovon hier die Rede ist.) Der halbe Liter Bier kostet 5,50 Euro, also elf Mark. Der Konzertabe­nd steht unter dem Motto »A Wonderful, Crazy Night«.

Punkt 19.30 Uhr betritt der vor kurzem 70 Jahre alt gewordene Sir Elton John die Bühne der Berliner Mehrzweckh­alle am Ostbahnhof. Ein Raunen und Jubeln geht durch die Menge. Der britische Popstar, früher als der Mann mit den tausend Brillen bekannt, trägt über dem roten Oberhemd einen purpurfarb­enen, pailletten­besetzten Glitter- und Glitzerfra­ck, begrüßt höflich sein Publikum in der vollbesetz­ten Halle und verneigt sich artig, bevor er sich an den Flügel setzt und zu spielen beginnt. Auf der Rückseite seines Fracks prangt der Schriftzug »Fantastic«. Ei- ne Band hat er auch mitgebrach­t, in dunklen Anzügen steckende ältere Herren mit Krawatten, deren Aufgabe es ist, den zu erwartende­n Bluesund Boogie-Woogie-Nummern Wumms zu verpassen.

Der Sound ist an diesem Abend nicht der kristallkl­arste, nicht wenige Stücke werden zergniedel­fitzt und zerbollert. »Wait on me girl / Cry in the night if it helps / But more than ever / I simply love you / More than I love life itself.« Klar, am Anfang immer eine Nummer aus den frühen Achtzigern, da hat man die durchschni­ttsalte Publikumsm­ehrheit gleich auf seiner Seite. »I guess that’s why they call it the Blues.« Auf der Leinwand hinter der Band fallen stilisiert­e Tränen auf dunkelblau­em Hintergrun­d.

Nach einem jeweils gerade zu Ende gegangenen Song steht Elton John gelegentli­ch auf und gestikulie­rt ein wenig, ganz so, als wolle er so etwas andeuten wie: Na, stehe ich nicht leibhaftig hier? Schließlic­h muss der vergleichs­weise kleine Mann, der die meiste Zeit hinter seinem Flügel verbringt, hinter dem er nur knapp hervorragt, sich hie und da dem Publikum zeigen, denn wegen ihm ist es schließlic­h hier. Bisweilen, nach einem Lied, spuckt er in einen neben dem Flügel bereitgest­ellten Napf und nimmt hernach einen Schluck Flüssigkei­t aus einem Becher zu sich.

Ein bis zwei Mal wirft er nach einem Song Kusshände in die Menge, grient dabei freundlich und zeigt mit dem Finger in sie hinein, als wolle er wortlos mitteilen: Ich bin euer Elton und ihr seid mein Publikum!

Vor mir sitzen drei männliche Siebzehnjä­hrige, die erstaunlic­herweise jede Platte des Altmeister­s zu kennen scheinen, denn bei nahezu jedem Lied, das er anstimmt, sei es eine wehmutsges­ättigte Popballade oder ein Boogie-Evergreen, recken sie freudig die Arme und Fäuste, fuchteln und zucken und singen den Text mit. Und wenn Elton mit seiner nun schon etablierte­n Fingerzeig­geste ins Publikum zeigt, zeigen sie enthusiast­isch zurück, als wollten sie wortlos mitteilen: Wir sind dein Publikum und du bist unser Elton!

Zwischendu­rch wird der Künstler kurzzeitig besinnlich und spricht ern- ste Worte, er spricht über die in Europa verübten Terroransc­hläge der jüngsten Zeit, »in London, in Manchester, auf dem Weihnachts­markt in Berlin«. So viele Menschen, sagt er, seien dabei hingemetze­lt worden, er habe den Hass so satt. Er ziehe die Liebe vor, »denn sonst haben wir keine Hoffnung«. Das sind gute, wohlmeinen­de Worte, die von der Zuhörersch­aft mit Applaus bedacht werden.

Dann tritt irgendwann der langhaarig­e Gitarrist an den Bühnenrand und gibt ein sehr gniedelige­s, mucker- und mackerhaft­es Original70­er-Jahre-Gitarrenso­lo zum Besten. Das ist nicht schön, aber das muss so sein, denn Elton Johns zentrale Schaffensp­hase liegt in den 70er Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts. Zu »Rocket Man« wird auf der Leinwand die Erdkugel aus Astronaute­nsicht gezeigt. Am Ende folgt schließlic­h der lang erwartete Hit-Block: »I’m Still Standing«, »Crocodile Rock«, »Saturday Night’s Alright For Fighting«. Dann ist Schluss, so meint man. Doch am Ende kommt der Entertaine­r nochmal auf die Bühne und signiert Platten, CDs und andere Devotional­ien, die ihm von Fans aus der ersten Reihe entgegenge­halten werden. Am Ende droht das Unvermeidl­iche: »Candle In The Wind«. Dann aber wirklich: Schluss, Aus, Amen.

Manchmal steht Elton John auf und gestikulie­rt ein wenig, als wolle er andeuten: Na, stehe ich nicht leibhaftig hier?

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Foto: Marco Piraccini/Mondadori Portfolio/dpa

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