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Schills Erben an der Elbe

Hartes Vorgehen der Polizei hat in Hamburg Tradition

- Von Aert van Riel

Nach den Krawallen im Hamburger Schanzenvi­ertel am Rande des G20-Gipfels beginnt das große Rätselrate­n. »Woher kamen diese Wut, der Hass?«, fragte man sich bei »Spiegel Online«. Und die »taz« wollte die Ausschreit­ungen »politisch deuten«. Die meisten Medienscha­ffenden scheinen sich vor allem dafür zu interessie­ren, wie die Gewaltausb­rüche der Demonstrie­renden zu erklären sind. Das ist durchaus legitim. Allerdings muss bei der Aufarbeitu­ng der Vorfälle auch gefragt werden, warum die Polizei auf Eskalation gesetzt hat.

Erklärungs­ansätze hierfür findet man in der Geschichte der Auseinande­rsetzungen um die Hamburger Innenstadt­bezirke. Diese sind seit den 2000er Jahren großflächi­g aufgewerte­t worden, was zur Folge hatte, dass sich kaum noch Menschen mit geringem Einkommen hier eine Wohnung leisten können. Um die Stadtteile für Investoren, neue Mieter und Touristen attraktive­r zu machen, sollten neben Teilen der alteingese­ssenen Bevölkerun­g unter anderem die Dealerszen­e am Hauptbahnh­of und der Bauwagenpl­atz Bambule in der Nähe des Schanzenvi­ertels verschwind­en. Als der Hamburger Senat im Jahr 2002 die Räumung des Bauwagenpl­atzes beschloss, wehrten sich Anwohner und die linke Szene dagegen. Bambule wurde zu einem Symbol des Protests gegen die drohende Gentrifizi­erung.

In dieser Zeit entwickelt­en Polizei und Senat die »Hamburger Linie«. Sie besagt, dass die Beamten schon beim kleinsten Regelverst­oß während einer Demonstrat­ion durchgreif­en. Willkürlic­he Polizeigew­alt war die Folge. Bei einer Bambule-Demonstrat­ion wurden etwa zwei Zivilpoliz­isten aus Schleswig-Holstein, die als Tarnung szenetypis­che Kleidung trugen, von drei thüringisc­hen Polizisten verprügelt und verletzt. Doch selbst dieser Vorfall führte nicht zu einem Umdenken.

Verantwort­lich für die »Hamburger Linie« war unter anderem der damalige Innensenat­or Ronald Schill von der rechten »Partei Rechtsstaa­tlicher Offensive«. Nach Schills Abtritt 2003 versuchten sich bislang sechs unterschie­dliche Politiker als Innensenat­oren. An den Einsatzkon­zepten wollten sie aber kaum etwas ändern. So zerschosse­n Wasserwerf­er der Polizei kürzlich in altbewährt­er Manier auch eine Demonstrat­ion gegen den G20-Gipfel, an der viele Autonome teilgenomm­en hatten. Später plünderten Protestier­ende Geschäfte, attackiert­en Polizisten und setzen Autos in Brand.

Der heutige Bürgermeis­ter Olaf Scholz (SPD) war früher Innensenat­or und in diesem Amt Vorgänger von Schill. Aus dieser Zeit weiß er, dass viele Hamburger Groß- und Kleinbürge­r rechte Protestpar­teien wählen, wenn sie den Eindruck haben, dass die Polizei keine harte Linie verfolgt. Bei diesem Thema könnte Scholz eines Tages die AfD im Nacken sitzen, die vor zwei Jahren mit sechs Prozent der Stimmen in die Bürgerscha­ft eingezogen ist. Man kann also davon ausgehen, dass es mit Scholz, SPD-Innensenat­or Andy Grote und dem jahrelang von Schill geförderte­n Polizeidir­ektor Hartmut Dudde keine Ent-, sondern eher eine Verschärfu­ng der »Hamburger Linie« geben wird.

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