Ein Leben in Briefen
Briefe aus fünf Jahrzehnten erzählen das Leben Victor Klemperers
Victor Klemperer hielt seine Zeit schreibend fest.
Die Briefe, die Victor Klemperer nach dem Ende des Krieges der Post übergibt, meist sehr lang, sind Lebenszeichen, Nachrichten eines Überlebenden, Mitteilungen, wie es ihm und seiner Frau in den letzten Jahren ergangen ist. Das alles ist mit ein paar Worten nicht zu machen. Aus München, wohin sie sich im Februar 1945 nach ihrer Flucht aus dem brennenden Judenhaus in Dresden retten konnten, sind sie mit ihrem Gepäck beinahe jeden Tag zwanzig bis dreißig Kilometer gelaufen, müde, hungrig, erschöpft, nur manchmal half ein Auto, ein Ochsenwagen oder Güterzug ein kleines Stück weiter. Nach »drei Vagabundenwochen« waren sie endlich wieder zu Hause. Sie fanden ihr Eigenheim in Dölzschen glücklicherweise unversehrt, innen aber (»ein Saustall«) total verwüstet. Was sie einmal besaßen, Möbel, Flügel, Wäsche, Bibliothek, hatte die Gestapo abtransportiert und vernichtet. »Aber bei alldem u. trotz einiger Stümpereien und mannigfacher kleiner Nöte und all der entsetzlichen Verwüstung ringsum«, heißt es im Mai 1946, »ist es doch eine Freude zu leben.«
Man kennt die Geschichte Victor Klemperers (1881 – 1960) aus seinen Tagebüchern, vor allem den Aufzeichnungen aus den Jahren der Nazidiktatur, diesem einzigartigen, erschütternden Dokument des alltäglichen Schreckens, der Erniedrigung, Verfolgung und Todesgefahr. Sie erschienen dreieinhalb Jahrzehnte nach seinem Tod im Aufbau-Verlag und machten ihren Autor schlagartig berühmt. Bekannt war er schon vorher, natürlich, denn er hatte ein erfolgreiches Buch mit dem Titel »LTI« geschrieben, eine scharfsinnige Analyse der Sprache des Dritten Reichs, und kurz vor dem Mauerfall waren ja noch seine Erinnerungen »Curriculum vitae« erschienen, aber die blieben in den Wirren jener Monate ohne große Beachtung. Das änderte sich nun. Plötzlich, 1995, war der Romanist Klemperer, hochgeschätzt in seinem Metier, Verfasser einer »Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert« und diverser wissenschaftlicher Publikationen, jemand, der eine erstaunte und ergriffene Nachwelt als sensibler, akribischer Zeitchronist überraschte. Die Tagebücher 1933 bis 1945 (»Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten«), 1999 mit dem Journal der Jahre 1945 bis 1959 und 2015 mit dem Revolutionstagebuch von 1919 ergänzt, überstrahlen inzwischen alles, was der Philologe einst unter die Leser brachte.
Dazu kommen nun auch die Briefe, gute sechshundert Seiten, die bis in die frühen Jahre Klemperers zurückblenden und wenigstens für Augenblicke den jungen Mann zeigen. Ende 1909 ist er mit einem Buch über Friedrich Spielhagen beschäftigt und fragt die Witwe des Schriftstellers Karl Emil Franzos nach möglichen Beziehungen ihres Mannes zu seinem Autor. Monate später bittet er »mit ehrerbietiger Hochachtung« Marie von Ebner-Eschenbach um ein Gespräch. Da ist er, als Jüngster aufgewachsen in einer jüdischen Familie, seit Jahren dabei, seinen Platz im Leben zu finden. Das Studium hat er, unangepasst, schon 1905 aufgegeben, seitdem sucht er, ausgesetzt dem Erwartungsdruck der Eltern und der viel erfolgreicheren Brüder, die ihm finanziell unter die Arme greifen müssen, nach Möglichkeiten, sich als Schriftsteller zu etablieren.
Festen Boden unter den Füßen gewinnt Klemperer, auch wenn es der ideale Platz für ihn nicht ist, erst Ende 1919 mit der Berufung an die Technische Universität in Dresden. Er ist nun Professor, er reist viel, vertieft sich in seine wissenschaftliche Arbeit, korrespondiert ausgiebig mit Karl Vossler, dem verehrten Lehrer, er spürt die zunehmende Gefähr- dung, die nicht erst 1933 einsetzt, bekräftigt aber Anfang 1934 in einem Brief an seinen Bruder Georg, »daß ich – ich meine zu dauernder Existenz – ganz und gar und ausschließlich nach Deutschland gehöre, daß ich absolut deutsch bin«. Da ist er noch geschützt durch seine Frau, die nicht Jüdin ist, doch dem Verhängnis kann er nicht entkommen. »Wir sind jahrelang von der Gestapo verfolgt u. immer wieder – wir beide – schwer mißhandelt worden«, wird er nach Kriegsende schreiben, »wir lebten in Judenhäuser gepfercht, wir hatten immer wieder Hausdurchsuchungen mit Schlägen, Fußtritten etc.; ich tat Zwangsarbeit in Fabriken, wurde von der Straße weg verhaftet, lernte Einzelhaft kennen, usw. usw.« Bei jeder Hausdurchsuchung, ergänzt er noch, dieselben Sprüche: »Kauf dir doch endlich für 10 Pf. Gas, wir quälen dich ja doch zu Tode, nimm uns die Arbeit ab!«
Klemperer spricht im selben Brief, verfasst am ersten Jahrestag der Befreiung, vom Wiederaufleben, »dessen Beglückung wir jeden Tag neu empfinden«. Er ist gleich der KPD beigetreten, ist nun Ordinarius der Technischen Universität in Dresden, wird Leiter der Volkshochschule und Vorsitzender des Kulturbundes, er hält Vorträge, schreibt an seinem Buch »LTI« und erlebt gleichzeitig, dass man ihm Rachsucht vorwirft, Unerbittlichkeit statt Milde, wenn er über die Jahre der Nazityrannei ur- teilt. Er erlebe, konstatiert er, »beinahe Tag für Tag das gleiche: immer wieder kommen Leute, die rehabilitiert sein wollen. Und alle versichern, dass sie selber gar nichts, rein gar nichts von all den Greueln gewusst haben, und alle sind von Anfang an Gegner der Hitlerei gewe- sen, und alle, buchstäblich alle haben sie jüdische Freunde gehabt, wenn nicht gar eine jüdische Großmutter, für die sie das äußerste gewagt haben«. Er nennt es ein »erbärmliches Schauspiel« und antwortet mit aller Entschiedenheit (»mit mildem Zuscharren ist nichts ge- tan«), bleibt bei alledem aber auffallend höflich, ohne jeden Anflug von Rachsucht, die ihm nachgesagt wird.
Nun kommt Klemperers beste Zeit. Er empfindet die Trennung zwischen Ost und West als »großes Unglück« und ist sich sicher, auf der richtigen Seite zu stehen. Für den AdenauerStaat hat er nichts übrig. Er ist ein gefragter und angesehener Mann. F. C. Weiskopf, noch im New Yorker Exil, lädt ihn zur Mitarbeit an seinem Buch über die Exilliteratur ein, Inge von Wangenheim äußert das »echte und dringende Bedürfnis«, ihn kennenzulernen. Briefe voller Hochachtung empfängt er immer wieder. Doch allmählich gerät er in einen Zwiespalt. Die Lehrtätigkeit (von Dresden geht es nach Greifswald und Halle, zuletzt nach Berlin) und die vielen Ämter, die er sich aufgeladen hat, lassen ihm kaum Zeit zum Schreiben. Und als es um die Veröffentlichung seines »LTI«Buches geht, kommt die erste Ernüchterung. Er trennt sich, wohl oder übel, von einem Kapitel, das man für antisemitisch hält, und wird fortan immer häufiger in Auseinandersetzungen mit der Zensur gezwungen. Unter dem politischen Druck, dem seine publizistische Arbeit unterliegt, splittern allmählich die Illusionen, an die er sich so hoffnungsvoll geklammert hat. Er rebelliert, wehrt sich gegen Eingriffe und Anmaßungen und macht gleichzeitig, aktiv wie eh und je, weiter wie bisher, umworben und geehrt.
Die Briefe, in Kapitel aufgeteilt und jedes Mal knapp eingeführt, lassen manches im Vagen. Es fehlt ein Anmerkungsapparat, der Lesern, die sich in der Kulturgeschichte der DDR kaum auskennen, hier und da Hintergründe und Zusammenhänge erhellt oder wenigstens mitteilt, wer beispielsweise der Romanist und Kollege Werner Krauss war und was es mit dessen Roman »PLN« auf sich hat, diesem in der Nazihaft entworfenen Wachtraum über die entthronte Vernunft. Das schärfere Bild jener Jahre (wie auch der Zeit zwischen 1933 und 1945, die nach 1941 ohne einen einzigen Brief bleibt) liefern ohnehin die Tagebücher. Hier steht, was die Korrespondenz vorsichtshalber ausspart, bloß andeutet oder allenfalls ahnen lässt.
Das letzte Wort in diesem Band hat Marta Feuchtwanger. Sie wünscht dem schwer erkrankten Klemperer, der eine Monografie über Lion Feuchtwanger plante und ein Jahr zuvor auf der Gedenkfeier des Greifenverlages für den verstorbenen Schriftsteller seinen Essay über dessen Roman »Erfolg« vortrug, am 27. Januar 1960 baldige Genesung. Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Vierzehn Tage später war Klemperer tot.
»... beinahe Tag für Tag das gleiche: immer wieder kommen Leute, die rehabilitiert sein wollen. Und alle versichern, dass sie selber gar nichts, rein gar nichts von all den Greueln gewusst haben, und alle sind von Anfang an Gegner der Hitlerei gewesen, und alle, buchstäblich alle haben sie jüdische Freunde gehabt ...« »Stil und Geist von Briefen sind immer das eigentliche Zeichen der Zeit.« Friedrich Wilhelm Nietzsche