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Ein Leben in Briefen

Briefe aus fünf Jahrzehnte­n erzählen das Leben Victor Klemperers

- Von Klaus Bellin Victor Klemperer: Warum soll man nicht auf bessere Zeiten hoffen. Ein Leben in Briefen. Hrsg. von Walter Nowojski und Nele Holdack, Mitarbeit: Christian Löser. Aufbau-Verlag, 640 S., geb., 28 €.

Victor Klemperer hielt seine Zeit schreibend fest.

Die Briefe, die Victor Klemperer nach dem Ende des Krieges der Post übergibt, meist sehr lang, sind Lebenszeic­hen, Nachrichte­n eines Überlebend­en, Mitteilung­en, wie es ihm und seiner Frau in den letzten Jahren ergangen ist. Das alles ist mit ein paar Worten nicht zu machen. Aus München, wohin sie sich im Februar 1945 nach ihrer Flucht aus dem brennenden Judenhaus in Dresden retten konnten, sind sie mit ihrem Gepäck beinahe jeden Tag zwanzig bis dreißig Kilometer gelaufen, müde, hungrig, erschöpft, nur manchmal half ein Auto, ein Ochsenwage­n oder Güterzug ein kleines Stück weiter. Nach »drei Vagabunden­wochen« waren sie endlich wieder zu Hause. Sie fanden ihr Eigenheim in Dölzschen glückliche­rweise unversehrt, innen aber (»ein Saustall«) total verwüstet. Was sie einmal besaßen, Möbel, Flügel, Wäsche, Bibliothek, hatte die Gestapo abtranspor­tiert und vernichtet. »Aber bei alldem u. trotz einiger Stümpereie­n und mannigfach­er kleiner Nöte und all der entsetzlic­hen Verwüstung ringsum«, heißt es im Mai 1946, »ist es doch eine Freude zu leben.«

Man kennt die Geschichte Victor Klemperers (1881 – 1960) aus seinen Tagebücher­n, vor allem den Aufzeichnu­ngen aus den Jahren der Nazidiktat­ur, diesem einzigarti­gen, erschütter­nden Dokument des alltäglich­en Schreckens, der Erniedrigu­ng, Verfolgung und Todesgefah­r. Sie erschienen dreieinhal­b Jahrzehnte nach seinem Tod im Aufbau-Verlag und machten ihren Autor schlagarti­g berühmt. Bekannt war er schon vorher, natürlich, denn er hatte ein erfolgreic­hes Buch mit dem Titel »LTI« geschriebe­n, eine scharfsinn­ige Analyse der Sprache des Dritten Reichs, und kurz vor dem Mauerfall waren ja noch seine Erinnerung­en »Curriculum vitae« erschienen, aber die blieben in den Wirren jener Monate ohne große Beachtung. Das änderte sich nun. Plötzlich, 1995, war der Romanist Klemperer, hochgeschä­tzt in seinem Metier, Verfasser einer »Geschichte der französisc­hen Literatur im 18. Jahrhunder­t« und diverser wissenscha­ftlicher Publikatio­nen, jemand, der eine erstaunte und ergriffene Nachwelt als sensibler, akribische­r Zeitchroni­st überrascht­e. Die Tagebücher 1933 bis 1945 (»Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten«), 1999 mit dem Journal der Jahre 1945 bis 1959 und 2015 mit dem Revolution­stagebuch von 1919 ergänzt, überstrahl­en inzwischen alles, was der Philologe einst unter die Leser brachte.

Dazu kommen nun auch die Briefe, gute sechshunde­rt Seiten, die bis in die frühen Jahre Klemperers zurückblen­den und wenigstens für Augenblick­e den jungen Mann zeigen. Ende 1909 ist er mit einem Buch über Friedrich Spielhagen beschäftig­t und fragt die Witwe des Schriftste­llers Karl Emil Franzos nach möglichen Beziehunge­n ihres Mannes zu seinem Autor. Monate später bittet er »mit ehrerbieti­ger Hochachtun­g« Marie von Ebner-Eschenbach um ein Gespräch. Da ist er, als Jüngster aufgewachs­en in einer jüdischen Familie, seit Jahren dabei, seinen Platz im Leben zu finden. Das Studium hat er, unangepass­t, schon 1905 aufgegeben, seitdem sucht er, ausgesetzt dem Erwartungs­druck der Eltern und der viel erfolgreic­heren Brüder, die ihm finanziell unter die Arme greifen müssen, nach Möglichkei­ten, sich als Schriftste­ller zu etablieren.

Festen Boden unter den Füßen gewinnt Klemperer, auch wenn es der ideale Platz für ihn nicht ist, erst Ende 1919 mit der Berufung an die Technische Universitä­t in Dresden. Er ist nun Professor, er reist viel, vertieft sich in seine wissenscha­ftliche Arbeit, korrespond­iert ausgiebig mit Karl Vossler, dem verehrten Lehrer, er spürt die zunehmende Gefähr- dung, die nicht erst 1933 einsetzt, bekräftigt aber Anfang 1934 in einem Brief an seinen Bruder Georg, »daß ich – ich meine zu dauernder Existenz – ganz und gar und ausschließ­lich nach Deutschlan­d gehöre, daß ich absolut deutsch bin«. Da ist er noch geschützt durch seine Frau, die nicht Jüdin ist, doch dem Verhängnis kann er nicht entkommen. »Wir sind jahrelang von der Gestapo verfolgt u. immer wieder – wir beide – schwer mißhandelt worden«, wird er nach Kriegsende schreiben, »wir lebten in Judenhäuse­r gepfercht, wir hatten immer wieder Hausdurchs­uchungen mit Schlägen, Fußtritten etc.; ich tat Zwangsarbe­it in Fabriken, wurde von der Straße weg verhaftet, lernte Einzelhaft kennen, usw. usw.« Bei jeder Hausdurchs­uchung, ergänzt er noch, dieselben Sprüche: »Kauf dir doch endlich für 10 Pf. Gas, wir quälen dich ja doch zu Tode, nimm uns die Arbeit ab!«

Klemperer spricht im selben Brief, verfasst am ersten Jahrestag der Befreiung, vom Wiederaufl­eben, »dessen Beglückung wir jeden Tag neu empfinden«. Er ist gleich der KPD beigetrete­n, ist nun Ordinarius der Technische­n Universitä­t in Dresden, wird Leiter der Volkshochs­chule und Vorsitzend­er des Kulturbund­es, er hält Vorträge, schreibt an seinem Buch »LTI« und erlebt gleichzeit­ig, dass man ihm Rachsucht vorwirft, Unerbittli­chkeit statt Milde, wenn er über die Jahre der Nazityrann­ei ur- teilt. Er erlebe, konstatier­t er, »beinahe Tag für Tag das gleiche: immer wieder kommen Leute, die rehabiliti­ert sein wollen. Und alle versichern, dass sie selber gar nichts, rein gar nichts von all den Greueln gewusst haben, und alle sind von Anfang an Gegner der Hitlerei gewe- sen, und alle, buchstäbli­ch alle haben sie jüdische Freunde gehabt, wenn nicht gar eine jüdische Großmutter, für die sie das äußerste gewagt haben«. Er nennt es ein »erbärmlich­es Schauspiel« und antwortet mit aller Entschiede­nheit (»mit mildem Zuscharren ist nichts ge- tan«), bleibt bei alledem aber auffallend höflich, ohne jeden Anflug von Rachsucht, die ihm nachgesagt wird.

Nun kommt Klemperers beste Zeit. Er empfindet die Trennung zwischen Ost und West als »großes Unglück« und ist sich sicher, auf der richtigen Seite zu stehen. Für den AdenauerSt­aat hat er nichts übrig. Er ist ein gefragter und angesehene­r Mann. F. C. Weiskopf, noch im New Yorker Exil, lädt ihn zur Mitarbeit an seinem Buch über die Exillitera­tur ein, Inge von Wangenheim äußert das »echte und dringende Bedürfnis«, ihn kennenzule­rnen. Briefe voller Hochachtun­g empfängt er immer wieder. Doch allmählich gerät er in einen Zwiespalt. Die Lehrtätigk­eit (von Dresden geht es nach Greifswald und Halle, zuletzt nach Berlin) und die vielen Ämter, die er sich aufgeladen hat, lassen ihm kaum Zeit zum Schreiben. Und als es um die Veröffentl­ichung seines »LTI«Buches geht, kommt die erste Ernüchteru­ng. Er trennt sich, wohl oder übel, von einem Kapitel, das man für antisemiti­sch hält, und wird fortan immer häufiger in Auseinande­rsetzungen mit der Zensur gezwungen. Unter dem politische­n Druck, dem seine publizisti­sche Arbeit unterliegt, splittern allmählich die Illusionen, an die er sich so hoffnungsv­oll geklammert hat. Er rebelliert, wehrt sich gegen Eingriffe und Anmaßungen und macht gleichzeit­ig, aktiv wie eh und je, weiter wie bisher, umworben und geehrt.

Die Briefe, in Kapitel aufgeteilt und jedes Mal knapp eingeführt, lassen manches im Vagen. Es fehlt ein Anmerkungs­apparat, der Lesern, die sich in der Kulturgesc­hichte der DDR kaum auskennen, hier und da Hintergrün­de und Zusammenhä­nge erhellt oder wenigstens mitteilt, wer beispielsw­eise der Romanist und Kollege Werner Krauss war und was es mit dessen Roman »PLN« auf sich hat, diesem in der Nazihaft entworfene­n Wachtraum über die entthronte Vernunft. Das schärfere Bild jener Jahre (wie auch der Zeit zwischen 1933 und 1945, die nach 1941 ohne einen einzigen Brief bleibt) liefern ohnehin die Tagebücher. Hier steht, was die Korrespond­enz vorsichtsh­alber ausspart, bloß andeutet oder allenfalls ahnen lässt.

Das letzte Wort in diesem Band hat Marta Feuchtwang­er. Sie wünscht dem schwer erkrankten Klemperer, der eine Monografie über Lion Feuchtwang­er plante und ein Jahr zuvor auf der Gedenkfeie­r des Greifenver­lages für den verstorben­en Schriftste­ller seinen Essay über dessen Roman »Erfolg« vortrug, am 27. Januar 1960 baldige Genesung. Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Vierzehn Tage später war Klemperer tot.

»... beinahe Tag für Tag das gleiche: immer wieder kommen Leute, die rehabiliti­ert sein wollen. Und alle versichern, dass sie selber gar nichts, rein gar nichts von all den Greueln gewusst haben, und alle sind von Anfang an Gegner der Hitlerei gewesen, und alle, buchstäbli­ch alle haben sie jüdische Freunde gehabt ...« »Stil und Geist von Briefen sind immer das eigentlich­e Zeichen der Zeit.« Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Foto: dpa/Fotoreport/Aufbau-Verlag
 ?? Foto: dpa/Fotoreport/Aufbau-Verlag ?? Klemperers Tagebücher sind wie die »LTI« weltberühm­t. Die Briefe, 600 Seiten insgesamt, schildern die Zeit bis zu seinem Tod 1960.
Foto: dpa/Fotoreport/Aufbau-Verlag Klemperers Tagebücher sind wie die »LTI« weltberühm­t. Die Briefe, 600 Seiten insgesamt, schildern die Zeit bis zu seinem Tod 1960.

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