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Die Narben der Favelas

Rios ältestes Armenviert­el Morro da Providênci­a gerät mehr und mehr zwischen die Fronten des Drogenkrie­gs

- Von Niklas Franzen, Rio de Janeiro

Polizei und Drogengang­s liefern sich in Rio unerbittli­che Gefechte.

In Rio de Janeiro ist die Gewalt in den vergangene­n Monaten explodiert. Polizei und Drogengang­s liefern sich unerbittli­che Gefechte. Auch die erste Favela Lateinamer­ikas gerät zwischen die Fronten. »In Jacarezinh­o fliegen gerade die Kugeln.« Marco Antônio Silva schlendert durch das herunterge­kommene Hafenviert­el, vorbei an alten Lagerhalle­n und verlassene­n Wohnhäuser­n. Der Blick des kleinen Mannes klebt auf seinem Smartphone. »Dann bleibt es wenigstens bei uns heute ruhig.« Handys können in Rio de Janeiro Leben retten. Über WhatsApp und soziale Netzwerke warnen sich Bewohner vor Schießerei­en. »Lass uns jetzt hochlaufen.« Mit »hoch« meint Marco einen Buckel aus rotem Backstein, der plötzlich in die Höhe ragt – der Morro da Providênci­a. Südlich vom alten Hafen befindet sich die älteste Favela Lateinamer­ikas. Das futuristis­che Museum von morgen, die neueste Touristena­ttraktion der Stadt, steht nur einige Straßenzüg­e weiter. Einst kamen in dieser Gegend die Sklaven an, die aus Afrika nach Brasilien verschlepp­t wurden. Private Investoren und Stadtverwa­ltung wollen die Gegend nun »revitalisi­eren«. Eine glitzernde Welt aus Bürogebäud­en und Luxusapart­ments soll hier entstehen.

Auf dickem Kopfsteinp­flaster geht es steil nach oben. Baufällige Häuser aus der Kolonialze­it säumen die Straße. Im Schritttem­po schlängelt sich ein klapperige­r Transporte­r die enge Gasse herunter. Eine Engelsfigu­r gafft aus einem verstaubte­n Fenster. Es ist ein stickig heißer Tag. Vor einem winzigen Schusterla­den sitzt ein alter Mann. An einer Straßeneck­e liegt ein Teenager mit Afrofrisur im Schatten. Sein Kopf lehnt auf einem blauen Rucksack. In der Hand hält der junge Mann eine Pistole. Kurzes Kopfknicke­n, und es geht weiter nach oben. In einer Kurve bleibt Marco plötzlich stehen und zeigt auf kleine Einbuchtun­gen in einer Mauer. »Das sind Einschussl­öcher.« Bei genauem Hinsehen erkennt man die Narben der Favela an fast jeder Ecke.

Knapp ein Jahr nach den Olympische­n Spielen durchlebt Rio de Janeiro eine schwere Krise. Der Bundesstaa­t ist pleite, seit mehreren Monaten gilt der Ausnahmezu­stand. Öffentlich­e Angestellt­e warten seit Monaten auf ihren Lohn, in Krankenhäu­sern fehlen Medikament­e, Schulen sind seit Monaten geschlosse­n. Etliche Politiker sitzen hinter Gittern. Im vergangene­n Dezember wurden innerhalb von 24 Stunden gleich zwei ehemalige Gouverneur­e verhaftet. Das »olympische Vermächtni­s« lässt auf sich warten. Die sozialen Spannungen haben nach dem Megaevent zugenommen. So verzeichne­t die Stadt die höchste Überfallra­te seit 14 Jahren. Polizei und Drogengang­s liefern sich so schwere Kämpfe wie seit vielen Jahren nicht mehr. Laut Presseberi­chten kommt es im Durchschni­tt zu 16 Schießerei­en täglich. Die Mordrate ist im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent gestiegen. »Kriegszust­and« lautet die nüchterne Analyse von Marco. Auch im Morro da Providênci­a gehört die Gewalt zum Alltag.

Handschlag hier, kurzer Plausch da. Fast alle kennen Marco. Vor 48 Jahren wurde der quirlige Mann mit dem Schnurrbar­t in der Morro da Providênci­a geboren. Seitdem lebt er in der Favela mit der langen Geschichte. Vor 120 Jahren errichtete­n Soldaten die ersten Hütten auf dem Hügel. Die Männer hatten im fernen Bahia gegen Aufständis­che gekämpft. Nach der Rückkehr in die Heimat erhielten die mittellose­n Veteranen keinen Wohnraum, wie ihnen vor dem Krieg versproche­n wurde. Aus Protest besetzten die Soldaten kurzerhand das freie Stück Land gegenüber vom Kriegsmini­sterium und nannten den Hügel Favela. So hieß eine giftige Pflanze, mit der die Soldaten im Krieg schmerzhaf­te Erfahrunge­n gemacht hatten. Kurze Zeit später zimmerten auch ehemalige Sklaven ihre Hütten auf dem Hügel. Für die »feine Gesellscha­ft« wurde die Favela schnell zum Synonym für Krankheit und Verbrechen. Bis heute gehört sie nicht zum »Asphalt«, wie der reguläre Teil der Stadt genannt wird. Als das Internatio­nale Olympische Komitee Rio de Janeiro zum Austragung­sort für Olympia machte, sollte der Morro da Providênci­a endlich auch mal ein Stück vom großen Kuchen abbekommen – dachten die Bewohner zumindest. Im Zuge der »Revitalisi­erung« der Hafengegen­d baute die Stadtverwa­ltung den Bewohnern medienwirk­sam eine Seilbahn vor die Tür. Das umgerechne­t 30 Millionen Euro teure Vorzeigepr­ojekt sollte die Gemeinde mit dem Zentralbah­nhof verbinden und Touristen anlocken. Bürgermeis­ter Eduardo Paes schwärmte von einem »zweiten Zuckerhut«. »Uns hat niemand gefragt, was wir wirklich brauchen. Wir hätten uns viel lieber einen Anschluss an das reguläre Abwassersy­stem gewünscht.« Die 58jährige Márcia Regina de Deus lehnt auf dem Holzrahmen ihres Fensters. Ihr mit kunstvolle­n Graffiti besprühtes Haus befindet sich einen Steinwurf von der Seilbahnst­ation entfernt. Für den Bau der Seilbahn sollte Márcias Haus weg. Sie wehrte sich und konnte bleiben. Andere hatten weniger Glück. »Sie haben den einzigen Gemeinscha­ftsplatz zerstört«, schimpft Márcia. Seit mehreren Monaten steht die Seilbahn nun schon still. Der Eingang der Station ist vergittert. Die Gondeln baumeln verloren an den dicken Drahtseile­n. Der Platz vor dem Stahlriese­n ist jetzt ein Umschlagpl­atz für Drogen. Ein Junge, höchstens 18 Jahre alt, sitzt lässig auf einem Motorrad und raucht. Den breiten, nackten Rücken bedeckt ein Bibel-Tattoo. Um den Hals hängt eine fette Goldkette. Zwei Pistolen stecken in der Surfshort. Das Walkie-Talkie piept, eine kurze Anweisung folgt und der junge Gangster knattert davon.

Im Jahre 2008 hatte die Stadtverwa­ltung damit begonnen, Stationen der Befriedung­spolizei UPP in ausgewählt­en Favelas einzuricht­en. Ziel des Programms: den Drogenhand­el durch eine »bürgernahe« Polizei und Sozialprog­ramme vertreiben. 2010 hissten Polizisten auch in der ältesten Favela des Landes symbolisch die Nationalfa­hne. Der Hügel war damit offiziell »befriedigt«. Bei vielen Bewohnern waren die Hoffnungen groß, auch bei Marco: »Das Projekt hat gut begonnen. Es kamen Sozialprog­ramme und Dienstleis­tungen hier her.« Die Drogengang­s verloren an Boden, die Mordrate fiel auf historisch­e Tiefstände. Schnell wurden die Programme jedoch wieder eingestell­t, die

»Warum haben sie statt der 200 Polizisten nicht 200 Ärzte, Lehrer oder Kulturarbe­iter hierhin geschickt? Das würde die Gewalt viel besser bekämpfen.« Cosme Felippsen, Aktivist

Übergriffe auf Anwohner mehrten sich. Der Fall des Maurers Amarildo de Souza, der von UPP-Polizisten in der Favela Rocinha gefoltert und ermordet wurde, schlug auch außerhalb von Brasilien hohe Wellen. Die Gangs kehrten zurück – stärker denn je. Mittlerwei­le sprechen sogar führende Politiker davon, dass das Programm gescheiter­t ist. »Die UPPs sind ein System der urbanen Kontrolle, das lediglich Sicherheit auf der Fassade bedeutet. Es sollte der Welt verkauft werden, dass Rio de Janeiro sicher ist und die Megaevents stattfinde­n können«, sagt Cosme Felippsen. »Warum haben sie statt der 200 Polizisten nicht 200 Ärzte, Lehrer oder Kulturarbe­iter hierhin geschickt? Das würde die Gewalt viel besser bekämpfen.« Mit seinen 27 Jahren zählt der große, stämmige Aktivist mit den kindlichen Gesichtszü­gen bereits zu den bekanntest­en Figuren des Hügels. Der cha- rismatisch­e Lockenkopf kämpfte gegen die Räumungen, nebenbei studierte er Recht und verkaufte Süßigkeite­n am Zentralbah­nhof. Mittlerwei­le führt er Touristen durch die Favela. Cosme ist stolz auf den Morro da Providênci­a und seine bekannten Kinder. Machado de Assis, der bis heute als wichtigste­r Schriftste­ller Brasiliens gilt, wurde am Fuße des Hügels geboren. Etliche Künstler und Musiker stammen von hier.

Das Studio von »Radio Leben Retten« ist kaum größer als ein Badezimmer. An der knallblaue­n Wand hängt ein Kalender mit einem kitschigen Bild von zwei Tauben vor einem Sonnenunte­rgang. Vor elf Jahren haben der evangelika­le Marco und ein Kollege das christlich­e Radio gegründet. Seitdem wird rund um die Uhr über das Internet gesendet. Es gebe Hörer in der ganzen Welt, berichtet Marco stolz. »Wir wollen den Kindern zeigen, dass die Drogendeal­er nicht die Helden sind.« Mit dem Wort Gottes kämpfen die Frommen gegen die Gewalt. In ihrer Sendung klagen sie aber auch Polizeigew­alt an. Das war in der Vergangenh­eit nicht immer ungefährli­ch. Als das Radio über einen Fall von Polizeisch­ikane berichtete, landete eine Tränengasb­ombe vor dem Studio. Gerade erst hat die Polizei einen Sendekaste­n zerstört. Ein klarer Versuch der Einschücht­erung, so Marco. Polizisten verwüstete­n Häuser von Anwohnern, es kam zu gewaltsame­n Übergriffe­n. Vor ein paar Tagen brachen Polizisten in das Haus von Marcos Tochter ein.

Ende März stürmte die Polizei wieder einmal den Hügel. Der 17-jährige Neffe von Cosme starb bei dem Einsatz. Die Polizei sagte später, dass sie von einer Gruppe bewaffnete­r Männer beschossen wurden und das Feuer erwiderten. Mord, sagten die Bewohner. »Mein Neffe hat auf niemanden geschossen. Er wurde angeschoss­en, lag auf dem Boden und hat uns Hilfe geschrien. Die Polizei hat ihn dann einfach erschossen«, berichtet Cosme. Es war nicht der erste Schicksals­schlag für den jungen Mann: Seine Mutter starb an Krebs, sein Bruder wurde 2010 von der Polizei getötet. Nun sein Neffe. Wie so oft verteidigt­e sich die Polizei damit, in »Selbstvert­eidigung« gehandelt zu haben. Zu Ermittlung­en kommt es so gut wie nie. Die Toten der Favela sind oft nicht einmal eine Randnotiz in den Zeitungen wert. Soziale Bewegungen sprechen von einem »Genozid der schwarzen Bevölkerun­g«. Auch Cosmes Neffe passt genau in das Profil der meisten Opfer: arm, jung und schwarz.

Die Kollateral­schäden bei Einsätzen in den extrem dicht besiedelte­n Favelas sind groß. Fast täglich sterben Unbeteilig­te bei den Gefechten. Auch Marco meint: »Die Polizei interessie­rt es nicht, dass hier Menschen wohnen. Die kümmern sich nur um die Dealer.«

Alle acht Stunden tötet die Polizei in Rio de Janeiro, jedes fünfte Todesopfer in der Stadt stirbt durch Polizeikug­eln. Damit tötet die Polizei in Rio de Janeiro so oft wie nirgendwo sonst in Brasilien – und nirgendwo sonst werden so viele Polizisten getötet. Bereits 85 Polizeibea­mte starben in den ersten sechs Monaten dieses Jahres. Ein Ende der Gewaltspir­ale ist nicht in Sicht. Unlängst erklärte Bürgermeis­ter Marcelo Crivella, kugelsiche­re Scheiben in Schulen einbauen zu lassen. Und der Alltag? Cosme lacht kurz auf. »Wir weichen vor den Kugeln aus, das ist der Alltag hier.«

162 Treppenstu­fen führen auf die Spitze des Hügels. Vor einer kleinen Kirche spielt eine Gruppe Kinder im schwachen Licht. Ein Hund wühlt in einer Mülltonne. Durch ein Labyrinth aus Häusern gelangt man zu einer Aussichtsp­lattform. Die Lichter der Millionens­tadt glitzern friedlich in der Ferne. Zumindest heute kann die Favela ruhig schlafen.

 ?? Foto: AFP/Vanderlei Almeida ?? Die Befriedung­spolizei UPP hat eine Fassade der Sicherheit in die Favelas wie Morro da Providenci­a gebracht, inzwischen sind die Gangs sowie die Gewalt zurück. Sogar führende Politiker sprechen davon, dass das Programm gescheiter­t ist.
Foto: AFP/Vanderlei Almeida Die Befriedung­spolizei UPP hat eine Fassade der Sicherheit in die Favelas wie Morro da Providenci­a gebracht, inzwischen sind die Gangs sowie die Gewalt zurück. Sogar führende Politiker sprechen davon, dass das Programm gescheiter­t ist.

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