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Die Macht der Sparte

Kleine, aber mächtige Gewerkscha­ften sehen auch nach dem Urteil ihre Position in den Betrieben bestätigt

- Von Rainer Balcerowia­k

Spartengew­erkschafte­n haben in der Vergangenh­eit mit ihrer Ausnahmest­ellung und harter Verhandlun­gstaktik Verbesseru­ngen für Beschäftig­te herausgeho­lt. Daran soll das aktuelle Urteil nichts ändern. Für die Spartengew­erkschafte­n ist das Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts zum Tarifeinhe­itsgesetz kein Grund zur Freude. Dennoch sehen sie ihren Anspruch auf tarifliche Vertretung ihrer Mitglieder im Kern bestätigt. »Wir hätten uns mehr gewünscht, aber wir werden auch künftig die Möglichkei­t haben, eigene Tarifvertr­äge für unsere Mitglieder durchzuset­zen, wenn es nötig ist auch mit Streiks«, sagte der Vorsitzend­e der Gewerkscha­ft Deut- scher Lokomotivf­ührer (GDL), Claus Weselsky, am Dienstag dem »nd«. Vor allem habe das Gericht klargestel­lt, »dass die betroffene­n Gewerkscha­ften nicht in Haftung genommen werden könnten, falls sie dieses Recht wahrnehmen. Wir werden uns auch weiterhin durchsetze­n.«

Auch der Chef der Ärztegewer­kschaft Marburger Bund (MB), Rudolf Henke, sieht positive Aspekte: »Auch wenn unsere Verfassung­sbeschwerd­e nicht zu einer völligen Aufhebung des Gesetzes geführt hat, sehen wir uns durch die jetzt formuliert­en Spielregel­n ermutigt, weiterhin uneingesch­ränkt von unserem Grundrecht zur Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaft­sbeziehung­en Gebrauch zu machen.« Zu Überlegung­en, den Organisati­onsbereich auf das Pflegeper- sonal auszudehne­n, wollte sich der MB am Dienstag nicht äußern.

Die vom Urteil betroffene­n Organisati­onen können teils auf eine lange Tradition zurückblic­ken. So nimmt die GDL für sich in Anspruch, als Nachfolgeo­rganisatio­n des 1867 gegründete­n Vereins Deutscher Lokführer die älteste Gewerkscha­ft Deutschlan­ds zu sein. Doch tarifpolit­isch traten sie lange Zeit kaum in Erscheinun­g. In einigen Bereichen, etwa bei der Bundesbahn, waren sie durch den Beamtensta­tus nicht tarifmächt­ig, in anderen waren sie in Tarifgemei­nschaften mit DGB-Gewerkscha­ften eingebunde­n.

Das änderte sich, als die Bundesregi­erung in den 1990er Jahren begann, große Teile der öffentlich­en Daseinsvor­sorge in privatwirt­schaftlich­e Rechtsform­en zu überführen. In eini- gen gut organisier­ten und durchsetzu­ngsmächtig­en Berufsgrup­pen wuchs der Unmut über die allzu ausgeprägt­e »Kompromiss­bereitscha­ft« der DGB-Gewerkscha­ften in Bezug auf Reallohnse­nkungen und schlechter­e Arbeitsbed­ingungen. Außer der GDL und MB kündigten auch die Vereinigun­g Cockpit (Piloten), die Gewerkscha­ft der Flugsicher­ung und die Unabhängig­e Flugbeglei­ter-Organisati­on (UFO) die Tarifgemei­nschaften Anfang des Jahrtausen­ds auf und strebten eigenständ­ige Tarifvertr­äge an.

Mit Erfolg: So gelang es der GDL mit mehreren spektakulä­ren Arbeitskäm­pfen nicht nur erhebliche Lohnerhöhu­ngen durchzuset­zen, sondern auch das Recht auf die tarifliche Vertretung des gesamten Fahrperson­als bei der Deutschen Bahn (DB), also au- ßer Lokführern auch Zugbegleit­er, Bordgastro­nomen und Disponente­n. Auch andere Spartengew­erkschafte­n können auf eine Dekade weitgehend erfolgreic­her Tarifpolit­ik zurückblic­ken. Und das gegen den erbitterte­n Widerstand der in diesen Bereichen tätigen DGB-Gewerkscha­ften.

Diese warfen den Spartengew­erkschafte­n vor, ihre privilegie­rte Stellung für die Durchsetzu­ng egoistisch­er Interessen zu missbrauch­en. Ein wenig realitätst­auglicher Vorwurf: So erstreikte die GDL 2007/2008 eine Gehaltserh­öhung von rund elf Prozent bei der DB. Zuvor hatte die DGBEisenba­hngewerksc­haft Transnet (heute EVG) für die anderen Bahnbeschä­ftigten ein Plus von 4,5 Prozent vereinbart – was nicht einmal die Reallohnve­rluste kompensier­te. Da- raufhin gerieten Konzern und Transnet unter Druck nachzubess­ern; die GDL war also Vorreiteri­n für eine bessere Entlohnung aller. Ähnlich sah es bei der Lufthansa aus, wo sich nach Erfolgen der UFO auch ver.di genötigt sah, Lohnerhöhu­ngen für die Berufsgrup­pe auszuhande­ln.

Für den DGB und den Unternehme­rdachverba­nd BDA waren die Erfolge der Spartengew­erkschafte­n Anlass für eine gemeinsame Kampagne zur gesetzlich­en Regelung der Tarifeinhe­it, die auch von Union und SPD übernommen wurde und 2015 in einem entspreche­nden Gesetz Ausdruck fand. Dass dieses nach dem Urteil die von den Initiatore­n angestrebt­e Wirkung entfalten kann, ist nach Einschätzu­ng der meisten Betroffene­n allerdings unwahrsche­inlich.

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