Mit Mini-Marshallplan in der Warteschleife
Der Westbalkan hofft auf einen wirtschaftlichen Aufschwung und die EU-Mitgliedschaft
Von einer Hochrisikozone mitten in Europa soll der Westbalkan zu einer prosperierenden Region nach EU-Standards werden. Auf der alljährlichen WestbalkanKonferenz, die Donnerstag im italienischen Triest stattfindet, glauben Politiker wie Beobachter aus der Region, werde die EU einen »Mini-Marshallplan« für den Aufbau einer modernen Infrastruktur vorlegen, der die Wirtschaft ankurbelt. Dazu schreibt die in Belgrad erscheinende Zeitung »Večernje novosti«, werde der Europäische Rat, dem die Staats- oder Regierungschefs der 28 EU-Mitglieder angehören, einen Sonderfonds einrichten, von dem ausländische Investoren wie lokale Startups profitieren. Es würden Tausende neue Arbeitsplätze entstehen. Auch werde der mit dem Innovationsschub verbundene Zustrom von hochqualifiziertem Personal aus Westeuropa dem Westbalkan helfen, jene Standards zu erreichen, die für eine EUMitgliedschaft nötig sind.
Der derzeit mit Abstand populärste ausländische Politiker auf dem Westbalkan heißt Siegmar Gabriel. Der Grund: Die »Berlin plus Agenda«, die der Bundesaußenminister Ende Mai vorstellte. Es geht dabei um das Upgrade eines 2014 beschlossenen Maßnahmepakets, das die Region politisch, wirtschaftlich und sozial reif für eine europäische Zukunft machen soll. Zwar hielt sich Gabriel mit Details der Roadmap eher zurück. Dennoch, oder womöglich gerade deshalb, hängen die Erwartungen in Albanien und jenen Nachfolgern Jugoslawiens, die nicht EU-Mitglied sind – Serbien, Bosnien/Herzegowi- na, Mazedonien, Montenegro und Kosovo – extrem hoch.
Fördern und gleichzeitig fordern, sei »im Prinzip« richtig«, sagt der Politikwissenschaftler Emir Habul aus dem bosnischen Sarajevo. »Je schneller wir uns bei Bildung, Gesundheit oder Recht Europa nähern, desto besser werden die Menschen hier leben.« Mit der Erfüllung von EU-Standards täte der Westbalkan daher in erster Linie nicht Europa, sondern sich selbst einen Gefallen. Doch die Bereitschaft dazu sinke, je länger sich das Warten hinzieht.
Schon auf dem ersten Westbalkan-Gipfel hatte Brüssel den Staaten der Region »vorbehaltlose Unterstützung« bei ihrer »europäische Ausrichtung« zugesagt. Doch das war 2003. Mit Ausnahme Österreichs, der einstigen Schutzmacht, ist das »Versprechen von Thessaloniki« auf der Agenda ziemlich weit nach unten gerutscht. Europa ist sehr mit sich selbst beschäftigt und hat als Brandmeister in anderen Ecken der Welt zu tun. Erst als in den letzten Monaten die Spannungen auf dem Westbalkan erneut gefährlich eskalierten, rückte er wieder in den Fokus von Politik und Medien. Perspektivlosigkeit treibt Tausende als Wirtschaftsflüchtlinge nach Westeuropa. Auch die Terrormilizen »Islamischer Staat« bekommen pro Kopf der Bevölkerung gerechnet aus Kosovo und Teilen Bosniens mehr Zulauf als aus dem russischen Nordkaukasus und Zentralasien. Die Auf- bruchsstimmung nach dem Ende der jugoslawischen Teilungskriege 1995 ist dahin.
Korruption, Clanwirtschaft oder bestellte Gerichtsurteile gehören nach wie vor zum Standardrepertoire der nicht ganz lupenreinen Demokraten, die in Belgrad, Sarajevo, Skopje, Tirana oder Pristina regieren. Auch in Montenegro steht das europäische Politikmodell auf eher wackeligen Füßen. Hoffnungen auf Rabatt bei den EU-Beitrittsverhandlungen, wie sie Politiker wegen des NATO-Beitritts im Juni streuen, seien »Opium fürs Volk« lästerte ein lokaler Kolumnist. Real sei »irgendwann nach 2025«
Kollegen in Bosnien sehen das durch den »Mini Marshallplan« bestätigt. Von »Trostpreis« ist die Rede und von Ablasshandel: Straßen, Bahnlinien oder Wasserkraftwerke gegen weitere Runden in der Warteschleife. Schon der Türkei, warnt Politologe Habul, habe die EU die Mitgliedschaft » Jahrzehnte wie dem Esel eine Möhre« hingehalten. Auch weil es keine realen Verhandlungsfortschritte gab, sei Recep Tayyip Erdoğan zum Problemfall geworden. Gleiches drohe auf dem Westbalkan.
Das ist nicht übertrieben. Das Kunstprodukt Bosnien ist auf dem Weg, sich in seine ethnischen Bestandteile zu zerlegen. Ähnliches droht Mazedonien und Kosovo. Dessen Anerkennung durch westliche Führungsmächte lieferte Wladimir Putin in Moskau 2008 die Steilvorlage, sich Monate später Georgiens abtrünnige Region Abchasien einzuverleiben und 2014 die ukrainische Krim. Der Westbalkan, glaubt Habul, brauche weniger einen Mini-Marshallplan als eine klare europäische Perspektive. Mit Roadmap und Rabatt.