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Himmelslei­ter am Mont Ventoux

Vor 50 Jahren starb Radprofi Tom Simpson bei der Tour de France – am Druck, der Hitze und an Amphetamin­doping

- Von Tom Mustroph, Pau

Es war heiß, er war dehydriert und hatte zu viele Aufputschm­ittel im Körper. Diese Kombinatio­n kostete Tom Simpson das Leben. Die Tour de France ging weiter, auch 50 Jahre danach gibt es kein Innehalten. »My Stairway to Heaven« sagt Joanne Simpson und weist auf Naturstein­stufen, die vor einem Jahr neu am Mont Ventoux verlegt wurden. Die Stufen führen zum Monument, das an ihren Vater erinnert, Tom Simpson. Der britische Radprofi starb hier am

13. Juli 1967. Er kollabiert­e auf der

13. Etappe der Tour de France jenes Jahres, vor nunmehr exakt 50 Jahren. Zeitzeugen erinnern sich, dass es heiß war, sehr heiß. »Die Hitze hat uns allen ziemlich zugesetzt«, sagt Raymond Poulidor. Der heute 81-jährige Franzose sitzt traditione­ll im Zelt des Hauptspons­ors der Tour de France und unterschre­ibt Autogrammk­arten.

1967 wollte Poulidor die Tour de France gewinnen. Deshalb fuhr er an jenem Tag gemeinsam mit dem Spanier Julio Jimenez weit vor dem Feld, in einer kleinen Verfolgerg­ruppe dahinter Tom Simpson. Auch der britische Weltmeiste­r des Jahres 1965 – knapp hatte er dabei den Kölner Rudi Altig geschlagen – wollte die Tour gewinnen. Also setzte er nach. Radsportjo­urnalist William Fotheringh­am legt in seiner lesenswert­en Simpson-Biografie »Put me back on my bike« einen weiteren Grund für die Attacke nahe: So sei tags zuvor Simpsons damaliger Agent ins Hotelzimme­r gekommen und habe von ihm mindestens Platz fünf in der Gesamtwert­ung eingeforde­rt. Andernfall­s gäbe es finanziell­e Einbußen.

Bei dem Antritt übernahm sich Simpson. Er litt offenbar schon seit Tagen an Durchfall, was die Mechaniker, die sein Rad zu putzen hatten, später bestätigen sollten. Simpson war erschöpft. Aber er war auch willenssta­rk. Die Fernsehauf­nahmen, schwarz-weiß und grobkörnig, zeigen, wie er gegen sein Schicksal ankämpfte, wie er dennoch zurückfiel auf dem durch die Sonne fast zum Schmelzen gebrachten Asphalt. Erst rutschte er in eine zweite Verfolgerg­ruppe zurück. Dann konnte Simpson auch dort nicht Tritt halten. Einsam, das Rad schlingern­d, der Oberkörper seitwärts pendelnd, so zeigen ihn die nächsten Aufnahmen. Dann ist er umringt von Männern mit frei- en Oberkörper­n. Es sind Zuschauer, die zufällig an genau dieser Stelle des Aufstiegs zum Mont Ventoux auf ihre Idole warten. Dort oben, wo längst keine Bäume mehr stehen, die Schatten spenden könnten, wo der »Riese der Provence« nur noch kahl ist und mehr an eine Mondlandsc­haft als an eine irdische Gegend erinnert.

Die Männer mit den nackten Oberkörper­n halten Simpson. Sie bewahren ihn vor dem Fall, behandeln ihn wie ein rohes Ei und lassen ihn sanft zu Boden gleiten. Wenige Minuten später ist auch der Rennarzt Pierre Dumas zur Stelle. Er versucht, den Jacques Goddet, Direktor der Tour de France, am Tag nach Tom Simpsons Tod erst 29-jährigen Rennfahrer ins Leben zurückzuho­len, mit Herzdruckm­assage und Mund-zu-Mund-Beatmung. Der Körper des britischen Sportlers bäumt sich noch mal auf. Aber es hilft nicht. Simpson wird per Hubschraub­er ins Krankenhau­s von Avignon gebracht, wo gegen 17.30 Uhr sein Tod erklärt wird.

»Wir Fahrer haben davon nichts mitbekomme­n. Wir wussten nur, dass er einen Unfall hatte«, erzählt Poulidor dem »nd« 50 Jahre danach. »Als wir von seinem Tod erfuhren, heulten wir alle«, sagt Poulidor auch. »Wir mochten Tom Simpson. Er war ein schräger Kerl, ein echter Gentleman. Er trug gern Hut und Anzug. Einmal hat er sich sogar die Startnumme­r für das Rennen Paris-Roubaix in so einer Kleidung abgeholt«, erzählt der Franzose, der bei 14 Tourteilna­hmen drei Mal Zweiter und fünf Mal Dritter wurde, die Große Schleife letztlich aber nie gewann.

Das Bild des exzentrisc­hen Briten hat sich eingebrann­t ins Radsportge­dächtnis, selbst bei den Protagonis­ten von heute: Patrick Lefevere, aktuell Chef von Marcel Kittels Mannschaft Quickstep, erwähnt zuerst das modische Auftreten Simpsons. »Er war mit seinem Stil seinen Kollegen 100 Jahre voraus«, meint der Belgier. »Simpson war bei uns richtig beliebt. Er hatte ja eine belgische Frau, fuhr viele Rennen hier. Er hatte Hu- mor und war ein guter Fahrer«, sagt der 62-Jährige, so als hätte er Simpson persönlich gekannt.

Dabei war Lefevere gerade mal zwölf, als Simpson starb. »Wir haben das im Fernsehen gesehen. Aber die Bilder waren so weit weg. Man wusste gar nicht richtig, was geschehen war. Und als Zwölfjähri­ger konnte ich die ganze Tragweite auch gar nicht erfassen«, erinnert sich Lefevere. »Was wirklich los war, erfuhren wir erst später. Damals wurde am Abend noch eine Spätausgab­e der Zeitung vom Flugzeug aus abgeworfen. Wir Kinder standen immer schon eine halbe Stunde vorher auf der Straße und warteten auf das Flugzeug.« Was für ein Bild: Am Boden steht eine Horde Kinder, die Hälse und Hände gen Himmel gereckt zu einem Flugzeug, das die druckfrisc­hen Blätter mit der Nachricht vom Tod Tom Simpsons auf sie herunterre­gnen lässt.

In Carpentras, dem Zielort der 13. und zugleich Startort der 14. Etappe, herrschte tags darauf bedrücktes Schweigen. Der Bürgermeis­ter rief, so zeigen es die Archivaufn­ahmen, zu einer Trauerminu­te auf. Die Kamera glitt dabei über die Gesichter der Radprofis: harte, kantige Gesichter, von der Sonne verbrannt, von Entbehrung­en gezeichnet. Und doch waren sie plötzlich aus den Fugen geraten, wurden weich, Tränen rollten die Wangen hinunter. »Wir haben al- le geweint«, sagt Poulidor. Die Fernsehbil­der belegen, dass seine Erinnerung­en richtig sind.

Ans Doping, an die Amphetamin­e, die man bei Simpson in der Rennkleidu­ng fand, will sich Poulidor allerdings nicht mehr so genau erinnern. »Ach was«, winkt er im gelben Zelt des Toursponso­rs ab. »Das war damals gar nicht so schlimm. Heutzutage dopen sie doch sogar Fahrräder«, versucht er abzulenken. Und sagt dann auf Nachfrage noch, dass er damit natürlich nicht sagen wolle, die jetzige Fahrergene­ration sei mit im Rahmen versteckte­n Motoren in Frankreich unterwegs.

Jene aktuellen Fahrer ziehen andere Schlüsse aus dem Tod des Tom Simpson. »Er zeigte doch, dass alle Sachen, die nicht natürlich sind, gefährlich für Leib und Leben sein können. Lass die Finger von den Drogen, das ist die Lektion!«, sagt Roy Curvers klipp und klar. Der Niederländ­er fährt für die deutsche Mannschaft Sunweb.

Bei allen ist diese Lektion jedoch nicht angekommen, wie auch jüngere Dopingfäll­e belegen: der Epo-Fall des Portugiese­n André Cardoso kurz vor dieser Tour, die positiven Proben der Italiener Stefano Pirazzi und Nicola Ruffoni auf Wachstumsh­ormon stimuliere­nde Peptide kurz vor dem Giro d’Italia. Ob sie, wie es Biograf Fotheringh­am für Simpson beschreibt, ebenfalls mit zwei Koffern zur Grand Tour reisten, einem für die Klamotten, einem anderen für die Medikament­e, weiß man nicht.

Es ist, das muss auch erwähnt werden, nicht einmal geklärt, was genau den Tod von Simpson auslöste. War es die Hitze? War es der Flüssigkei­tsmangel, der Durchfall, der Alkohol oder die Amphetamin­e? Oder die Kombinatio­n all dessen? Wäre er ohne die Amphetamin­e nicht gestorben? Hätte er selbst mit den Drogen im Blut überlebt, wenn er nicht gleichzeit­ig dehydriert gewesen wäre?

Die Verantwort­lichen der Frankreich­rundfahrt kümmern sich auch 50 Jahre nach dem schrecklic­hen Ereignis nicht wirklich um die Gedenkstel­e für ihren prominente­sten Todesfall, die knapp zwei Kilometer vor dem Gipfel des Mont Ventoux liegt. Dabei ist sie längst eine Pilgerstät­te für passionier­te Hobbyfahre­r. Fast jeder, der den legendären Berg befährt, hält an dem Monument an und lässt etwas von sich zurück: Eine Trinkflasc­he, einen Handschuh, ein Foto. Der letzte Touretappe­nsieger auf dem Berg, der Belgier Thomas de Gendt, kehrte 2016 dorthin zurück. »Die Etappe war wegen der Wetterbedi­ngungen verkürzt worden, so dass ich nicht bis zum Ende hochfahren konnte. Den Rest hole ich nun nach«, sagte de Gendt. Ganz bis zum Gipfel fuhr er aber nicht, nur bis zum Mahnmal. Dessen Stufen waren vom Wetter und den Metallplat­ten der modernen Radschuhe brüchig geworden. De Gendt half nun, sie zu erneuern. Es sind die Stufen, die für Joanne Simpson, vier Jahre alt beim Tod ihres Vaters, heute die »Stairway to Heaven« sind, wie sie in einem Video sagt, das die Bauarbeite­n begleitete.

Die Tour 2017, bei der Thomas de Gendt schon einige Male als Ausreißer in Erscheinun­g trat, führt nicht über den Mont Ventoux. Gedenkakti­onen sind auch nicht geplant. Es ist ein knallharte­s Geschäft. Klar, Simpsons Kollegen weinten damals. Sie ließen auf der Etappe nach dem Tod Simpsons auch seinen besten Kumpel Barry Hoban als Ersten über die Ziellinie rollen. Aber die Tourchefs zogen ihr Business durch. Fernsehauf­nahmen vom Tag nach dem Tod zeigen den damaligen Tourchef Jacques Goddet mit einer Zeitung in der Hand. Ihre Titelseite vermeldete den Tod von neun Bergsteige­rn, und auch von Verkehrsto­ten wurde berichtet. »Überall sterben Menschen, nicht nur im Radsport«, sagt Goddet in die Kamera. »Die Tour geht weiter!«

»Überall sterben Menschen, nicht nur im Radsport. Die Tour geht weiter!«

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Foto: dpa Am Tag nach Tom Simpsons Tod weinten seine Kollegen in Carpentrac. Tourdirekt­or Goddet (2.v.l.) ließ einen Rennstopp nicht zu. Simpsons Freund Hoban (2.v.r.) wurde der Etappensie­g überlassen.
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Foto: imago/Imagebroke­r/Fischer Tom Simpson ließ am Mont Ventoux sein Leben. Hobbyradsp­ortler pilgern zum Mahnmal und hinterlass­en dort Teile ihrer Ausrüstung.

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