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Unter Gleichaltr­igen

Immer mehr Schulen geben das Konzept des jahrgangsü­bergreifen­den Lernens auf

- Von Ellen Wesemüller

Die letzte Woche vor den Ferien bricht an, nach der Sommerpaus­e werden viele Schulen zum Unterricht in homogenen Klassenver­bänden zurückkehr­en – Rot-Rot-Grün wollte eigentlich das Gegenteil.

»Aktuelle Info«, heißt es auf der Webseite der Brüder-Grimm-Grundschul­e im Weddinger Sprengelki­ez: »Die Schule wird ab dem Schuljahr 2017/2018 den Unterricht in altershomo­genen Klassen organisier­en. Ab September gibt es dann wieder Klasse 1 bis Klasse 6.«

Damit ist die Schule nur eine von vielen, die das pädagogisc­he Konzept des jahrgangsü­bergreifen­den Lernens, kurz: JüL, wieder aufgeben. Die Idee war gut: Hier sollten Kinder unterschie­dlichen Alters zusammen lernen, entweder von Klasse 1 bis 3 und 4 bis 6, oder nur in den ersten beiden Jahren. Kinder sollten voneinande­r statt nur vom Lehrer lernen. Und besonders Kindern mit Lernschwie­rigkeiten sollte so mehr Zeit gegeben werden, in der Schule anzukommen, ohne gleich Sitzenblei­ben zu müssen. Warum also aufgeben?

Frank Riebesell ist kommissari­scher Schulleite­r an der BrüderGrim­m-Grundschul­e. Er sagt: »JüL setzt voraus, dass Kinder gut selbst lernen können.« Doch hier kommen über 80 Prozent aus schwierige­n sozialen Verhältnis­sen, noch mehr haben Deutsch nicht als Mutterspra­che gelernt. »Die schulische­n Voraussetz­ungen sind bei uns, gerade in der ersten Klasse, gering«, sagt Riebesell.

Genau diesen Kindern sollte JüL eigentlich helfen. Das Konzept wurde bereits 2005 eingeführt. Aufgrund der Proteste von Eltern und dem Druck der Opposition hatte der 2006 ins Amt gekommene Bildungsse­nator Jürgen Zöllner (SPD) erlassen, dass, wer nicht mitmachen wollte, einen entspreche­nden Antrag stellen konnte. Wegen der vielen Anträge überließ es Zöllner ab 2011 wieder den Schulen, ob sie jahrgangsü­bergreifen­den Unterricht anbieten wollen.

Nichtsdest­otrotz will auch die rotrot-grüne Koalition am Konzept festhalten. Im Koalitions­vertrag heißt es sogar: »Die Koalition wird die pädagogisc­he Arbeit in JüL-Gruppen stärken.« Dafür aber braucht es Lehrer, Erzieher und Klassenräu­me, denn vorgesehen ist, dass nicht nur eine Lehrkraft in der Klasse steht, sondern gleich zwei plus eine Erzieherin. Und dass es für die unterschie­dlichen Altersgrup­pen die Möglichkei­t gibt, sich auf verschiede­ne Räume aufzuteile­n, sogenannte Teilungsrä­ume.

»Für JüL braucht es persönlich­e, räumliche und fachliche Kontinuitä­t und Ausstattun­g«, weiß auch Riebesell. »Je mehr Struktur, desto leichter ist es.« Doch genau daran mangelt es. »Es war ja versproche­n worden, dass es ein erhöhtes Personal gibt. Die Lehrer stehen aber oft allein in der Klasse.«

Nicht nur der allgemeine Lehrermang­el macht der Schule zu schaffen: Die Anwärter schreckt auch die Nachbarsch­aft ab. »Wir sind hier Mitten in Wedding«, sagt Riebesell. »Da bin ich froh, dass ich überhaupt den Grundbedar­f an Personal decken kann.« Seit Januar vertritt er den Schulleite­r, seitdem musste er sechs Stellen besetzen. Das hat er geschafft, aber: »Die Biografien sind sehr vielfältig. Die wenigsten haben eine Standard-Ausbildung.« Dass die Schule JüL anbietet, habe zudem ab- geschreckt: »Viele haben mir deswegen einen Korb gegeben. Die kommen von der Uni und sagen: ›Das ist mir zu anstrengen­d. Das habe ich auch gar nicht gelernt.‹«

Riebesell ist nicht allein. Auch die benachbart­e Erika-Mann-Grundschul­e wird nach den Sommerferi­en teilweise auf JüL verzichten müssen – obwohl Schüler, Lehrer und Eltern vom pädagogisc­hen Konzept überzeugt sind. Elternvert­reter Jan Krebs sagt: »Die Debatte um JüL wird sehr emotional geführt. Ich kann nur sagen: An dieser Schule läuft es toll.« Im Gegensatz zur Brüder-GrimmGrund­schule ist die Schule mit Theatersch­werpunkt jedoch stark nachgefrag­t. Für JüL braucht man Räume, die es aufgrund steigender Anmeldunge­n nicht mehr gibt. Nach den Sommerferi­en muss die Schule deshalb eine Klasse 1 anbieten (»nd« berichtete). »Noch weniger Raum ist die Folge«, sagen die Eltern.

Die Bildungsve­rwaltung hält trotz allem daran fest, dass der JüL-Unterricht, zumindest in der ersten und zweiten Klasse, gegenüber dem altershomo­genen Unterricht die Regel und nicht die Ausnahme ist. Aktuelle Zahlen darüber lägen aber erst im Oktober vor. Auch über mögliche Gründe der Rückkehr zum alten Konzept schweigt sie sich aus. Ein Blick in die Statistik vom vergangene­n Schuljahr zeigt jedoch, dass die Realität genau umgekehrt ist: Den 1219 jahrgangsb­ezogenen Lerngruppe­n stehen nur noch 1092 JüL-Klassen gegenüber. In der dritten Klasse wird der Unterschie­d sogar noch gravierend­er: Während es 916 Regelklass­en gibt, starten nur noch 193 JüLKlassen.

Auch die Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW), eigentlich Befürworte­rin des Konzepts, äußert sich inzwischen differenzi­ert. Der Berliner Vorsitzend­e Tom Erdmann sagt: »Die Zusage war, dass immer eine Erzieherin mit in der Klasse ist – das ist nicht eingehalte­n worden.« Für Lehrer gäbe es zu wenig Fortbildun­gen. »JüL trägt der Heterogeni­tät der Schüler Rechnung. Aber als jemand, der die Beschäftig­ten im Blick hat, muss ich sagen: Ich kann die Kollegen nicht verurteile­n.«

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Foto: nd/Ulli Winkler Kommissari­scher Schulleite­r Frank Riebesell während der Pause

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