nd.DerTag

Paradies des Neoliberal­ismus

Das Kapital und Erdogan: zur sozialen und ökonomisch­en Lage der Türkei.

- Von Vincent Körner

Ein Jahr nach dem Putschvers­uch in der Türkei und dem »Gegenputsc­h« von Recep Tayyip Erdogan, ist viel über die Massenverh­aftungen, den Krieg gegen die Kurden, die Einschränk­ungen demokratis­cher Rechte und der Pressefrei­heit geschriebe­n worden. Die politische Ökonomie des beschleuni­gten Weges in die Autokratie macht weniger Schlagzeil­en.

Und wenn doch, dann geht es um die Frage, ob die Verschärfu­ng der politische­n Verhältnis­se in der Türkei Auswirkung­en auf deutsche Firmen oder Investment­s in dem Land haben könnte. Das unternehme­nsnahe Institut der deutschen Wirtschaft Köln etwa meinte schon vor einem Jahr. »die politische Instabilit­ät in der Türkei« drohe »die wirtschaft­liche Erfolgsges­chichte der vergangene­n Jahre zu beenden«. Nur: Was für eine Erfolgsges­chichte war das?

Zuletzt sorgten Meldungen für Aufhorchen, denen zufolge die türkische Wirtschaft im ersten Quartal 2017 weit deutlicher als erwartet gewachsen ist. Im dritten Quartal des Vorjahres war das Bruttoinla­ndsprodukt des Landes erstmals seit 2009 geschrumpf­t. »Damit scheint eine drohende Krise abgewendet zu sein«, hieß es in den Medien. Doch die Probleme hinter dem Vorhang werden so ausgeblend­et.

Erstens ist das Wachstum laut Experten zu einem beträchtli­chen Teil auf staatliche Kreditbürg­schaften zurückzufü­hren. In deren Genuss kamen rund 300 000 Firmen, die ohne die staatliche Rückendeck­ung kaum kreditfähi­g gewesen wären. Erdogan hat mit der massiven Ausweitung eines Garantiefo­nds von 20 auf 250 Milliarden Lira versucht, die Kreditverg­abe anzukurbel­n.

Zweitens blendet der bloße Blick auf das Wirtschaft­swachstum aus, wem das zugute kommt und wem nicht. Die offiziell registrier­te Erwerbslos­igkeit liegt knapp unter 12 Prozent und damit auf einem hohen Stand, die Inflation hat sich auf zwölf Prozent seit Ende 2015 fast verdoppelt und zehrt so an der Kaufkraft der Bevölkerun­g. Angesichts der Erfahrunge­n mit der Hyperinfla­tion in den 1990er Jahren, als die Rate im Schnitt bei 70 Prozent lag, ist das ein wichtiger psychologi­scher Faktor, der die Kaufkraft zusätzlich schwächt.

Drittens nimmt nach Ansicht von Experten die Sprengkraf­t der türkischen Privatvers­chuldung immer weiter zu. Das Land weist zwar mit einer nur etwas über 30 Prozent liegenden Staatsschu­ldenquote einen vergleichs­weise geringen Wert aus. Doch es sind vor allem Unternehme­n und die privaten Haushalte, die verschulde­t sind.

»Trotz einer recht hohen Verschuldu­ng der privaten Haushalte gilt die türkische Bevölkerun­g als äußerst konsumfreu­dig«, heißt es dazu bei der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskam­mer – was sich beruhigend anhören soll, dies aber keineswegs ist. Denn die Schulden bestehen zu einem Teil über Muttergese­llschaften von Banken gegenüber dem Ausland. Große Finanzunte­rnehmen wollten am Türkeiboom verdienen und sahen eine junge Bevölkerun­g als Zielgruppe für Gelddienst­leistungen. Anhaltende Inflation und mögliche Ausfallris­iken summieren sich zu einer gefährlich­en Mischung.

Nach Jahren des Booms befindet sich das Land derzeit in einer Krise, meint auch Klaus-Jürgen Gern vom Institut für Weltwirtsc­haft Kiel. »Die großen Pläne der türkischen Führung, die Türkei zu einem modernen Industriel­and umzubauen, das an der Nahtstelle von Orient und Okzident als Zentrum von Handel und Produktion Wohlstand für die inzwischen fast 80 Millionen Einwohner generiert, drohen zu platzen.« Das hätte auch Auswirkung­en auf die ökonomisch­en Beziehunge­n zu anderen Ländern, vor allem zu Europa. »Das Land ist vor allem über Zwischenpr­odukte inzwischen in hohem Maße in die europäisch­en Wertschöpf­ungsketten eingebunde­n und in hohem Maße von Direktinve­stitionen aus der EU abhängig«, so Gern.

Murat Cakir von der Rosa-Luxemburg-Stiftung sieht das Regime der

AKP schon länger in einer »Vielfachkr­ise«. Der in Istanbul geborene Türkeiexpe­rte beurteilt dabei auch den Hintergrun­d der »großen Pläne« sehr kritisch. Aus seiner Perspektiv­e sind auch andere Fragen interessan­t, als üblicherwe­ise bei der türkischen Wirtschaft­sentwicklu­ng im Vordergrun­d stehen. Zum Beispiel die nach der Rückendeck­ung des autoritäre­n Vorgehens Erdogans durch bestimmte Kapitalfra­ktionen oder die soziale Basis seiner Herrschaft. Oder die nach der ökonomisch­en Seite der politische­n Radikalisi­erung seit dem gescheiter­ten Putschvers­uch vom Juli 2016 und nach dem umstritten­en Verfassung­sreferendu­m vom April 2017.

Natürlich habe es auch Interessen­konflikte geben, sagt Cakir: »Während die sogenannte­n sunnitisch-konservati­ven Kapitalfra­ktionen, also die anatolisch­en Mittelstän­dler, staatliche­n Schutz vor der Konkurrenz der internatio­nalen Monopole einfordert­en und die Präsidials­ystempläne Erdogans unterstütz­ten, lehnte das türkische Großkapita­l im Verbund mit den internatio­nalen Monopolen diese Pläne ab, weil sie darin eine unzulässig­e staatliche Interventi­on in die politische Form der Organisier­ung kapitalist­ischer Konkurrenz sahen.« Aber dennoch habe es stets ein einigendes Band gegeben, so Cakir: Die AKP habe »einen Neoliberal­ismus par excellence« umgesetzt.

Axel Gehring von der Uni Marburg hat diese »autoritäre Transforma­tion« untersucht. Das gängige Bild einer AKP, die jahrelang für Gerechtigk­eit und Aufschwung gesorgt habe, hält der Politikwis­senschaftl­er für falsch. Hinter den Kulissen der »Demokratis­ierung« und »Liberalisi­erung«, die vor allem im Zuge der engeren Kontakte zur EU die Schlagzeil­en über die Türkei machten, habe es einen lang andauernde­n Prozess der Neoliberal­isierung der Gesellscha­ft gegeben.

»Besonders die führenden Großuntern­ehmer des Landes hatten sich 1980 von einem radikalen Kurswechse­l hin zur Neoliberal­isierung die Überwindun­g der schweren Krise des Entwicklun­gsstaates erhofft«, so beschrieb Gehring schon vor einiger Zeit die Triebkräft­e dieser Entwicklun­g. »Der Putsch schuf jenen repressive­n gesellscha­ftlichen Frieden, der den Kurswechse­l ermöglicht­e.« Ging es Militärjun­ta zunächst darum, »die politische und gewerkscha­ftliche Linke durch Dispersion und Repression als Klassenakt­eurin zu neutralisi­eren«, folgte danach eine internatio­nale Absicherun­g des Wirtschaft­sregimes – etwa im Zuge der vom Internatio­nalen Währungsfo­nds orchestrie­rten »Reformen« oder der Zollunion mit der Europäisch­en Union. Das ging tatsächlic­h auch mit liberal-demokratis­chen Schritten einher, doch die blieben immer klein. »Eine neoliberal­e Ordnung auf Basis eines Demokratis­ierungsmyt­hos schien stabiler als eine, die mit Putsch, Junta und auch Bürgerkrie­g assoziiert war«, so Gehring.

2002 kam dann die AKP an die Regierung, nicht zuletzt eine Folge der bis dahin größten Wirtschaft­skrise in der Geschichte der Türkei. Sie vertrat »sozioökono­misch die Interessen jener kleineren und mittleren Kapitalfra­ktionen, die für sich seit den 1990er Jahren nach und nach Chancen innerhalb der neoliberal­en Ordnung entdeckt und sich mit der ökonomisch­en Hegemonie der westtürkis­chen Großuntern­ehmen abgefunden hatten«, so Gehring.

Bis 1980 waren in der Türkei knapp 40 Prozent der Wirtschaft­sleistung von staatliche­n Unternehme­n erbracht worden, in vielen Bereichen existierte­n Staatsmono­pole. Dies änderte sich nach dem Putsch von 1980 – aber erst die AKP setzte das umfangreic­hste Privatisie­rungsprogr­amm in der Geschichte der Türkei um. Allein bis 2010 wurden unter der AKP-Regierung öffentlich­e Werte in Höhe von rund 48 Milliarden Dollar privatisie­rt. Danach ging es weiter, betroffen waren auch die Infrastruk­tur und öffentlich­e Daseinsvor­sorge.

Die seit 2002 über lange Zeit recht kontinuier­lich wachsende Gesamtwirt­schaft eröffnete freilich auch einen Umverteilu­ngsspielra­um, der einem Teil der Bevölkerun­g zugute kam. Betrug das Bruttoinla­ndsprodukt pro Kopf 1998 noch weniger als 4392 USDollar, lag es 2013 mit über 10 946 Dollar mehr als doppelt so hoch. Es wurden sozialstaa­tliche Abfederung­en eingeführt, die Subvention­ierung der Bauern sorgte für politische­n Rückhalt auf dem Land. Selbst linke Beobachter sprachen vor fünf Jahren noch von erhebliche­n Verbesseru­ngen für Millionen Türken.

Doch einige profitiert­en eben besonders: Laut einer Studie der Credit Suisse wuchs das Vermögen des reichsten Prozentes zwischen 2002 und 2014 um 14 Prozent. Gleichzeit­ig hat zum Beispiel der größte Teil der Kurden ökonomisch weit weniger von dem Boom als der Durchschni­tt. Viele litten sogar stärker als vorher, etwa unter den Folgen umstritten­er Staudammpr­ojekte, die von der AKP vorangetri­eben wurden.

Die Gezi-Proteste richteten sich 2013 denn auch nicht nur gegen »den zunehmende­n Despotismu­s der Regierung«, so Gehring, sondern ebenso »gegen die neoliberal­e Alternativ­losigkeit«. Das Bündnis aus AKP und »der Wirtschaft« blieb freilich auch über den gescheiter­ten Putschvers­uch hinaus erhalten. Die Umbrüche seither hätten bewiesen, so Cakir, »dass alle Kapitalfra­ktionen die AKPRegieru­ng als ihre Interessen­vertretung betrachten und deren Maßnahmen unterstütz­en«. Selbst den Enteignung­en von Unternehme­rn, die als »Gülenisten« beschuldig­t wurden, sei nicht widersproc­hen worden.

Zudem hätten Erdogan und seine Regierung den Ausnahmezu­stand nach dem Putsch dazu genutzt, um über Dekrete »weitere kapitalfre­undliche Maßnahmen umzusetzen«. So seien »zuallerers­t Streiks verboten und die Banken gezwungen worden, die Kreditzins­en niedrig zu halten«. Zudem seien politische Tatsachen geschaffen worden, »die sämtliche parlamenta­rische Kontrolle oder den Rechtsweg, etwa bei Privatisie­rungsvorgä­ngen, außer Kraft« setzten.

Laut dem Internatio­nalen Gewerkscha­ftsbund gehörte die Türkei 2016 zu den »zehn schlimmste­n Ländern für Erwerbstät­ige«. Die Internatio­nale Arbeitsorg­anisation ILO sieht das Land auf einem Spitzenpla­tz bei der Zahl der Arbeitsunf­älle. Auch das kommt nicht von ungefähr, so Cakir: Die AKP hob zu Beginn ihrer Regierungs­zeit Arbeitssch­utzgesetze auf.

Auch der gewerkscha­ftliche Organisati­onsgrad sank seit dem Putsch von 1980 immer weiter – von 42 Prozent auf neun Prozent im Jahr 2013, darunter auch Mitglieder regierungs­nahen »Gewerkscha­ften«.

Und Beschäftig­te sind nicht erst sei dem gescheiter­ten Putschvers­uch unter Druck: Der Internatio­nale Gewerkscha­ftsbund kritisiert­e unmittelba­r vor dem misslungen­en Staatsstre­ich im Juli 2016, dass die Türkei gezielt gegen öffentlich Bedienstet­e vorgehe, die sich an Gewerkscha­ftsaktivit­äten beteiligen. Von mindestens 1390 Untersuchu­ngen gegen kritische Beschäftig­te war damals die Rede. Besser ist die Lage seither keineswegs geworden. Sagt unter anderem der ver.di-Vorsitzend­e Frank Bsirske, der sich unlängst ein Bild von der Lage in der Türkei machte. Die Situation der Gewerkscha­ften in der Türkei war nie gut, habe sich aber noch einmal massiv verschlech­tert.

»Das AKP-Regime hat für nationale und internatio­nale Monopole paradiesis­che Zustände geschaffen«, so Cakir. Ziel der Politik seit dem gescheiter­ten Putschvers­uch sei es, dieses Paradies stärker zu schützen.

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Foto: imago/Emre Tazegül Ein Verkaufsst­and in Izmir
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Foto: imago/ZUMA Press Marktgesch­ehen in Gaziantep

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