nd.DerTag

Jeder Zweite, hierzuland­e

Warum Erdogan wählen? Ein Besuch in Berlin-Wedding

- Von Ellen Wesemüller »Erdogan hat die Demokratie im Alltag vorangetri­eben.«

Wer auf den Straßen des Sprengelki­ezes in Berlin-Wedding fragt, wo hier Anhänger des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan zu finden seien, kann zu dem vorschnell­en Ergebnis kommen: nirgends. »Ich hab’ jetzt keine Zeit und für Erdogan erst recht nicht«, sagt der Angestellt­e eines Dönerladen­s, »Ich bin Kurde«, sagt ein zweiter, »Da müssen Sie in Kreuzberg oder Neukölln fragen, in Wedding ist niemand für Erdogan«, ein dritter. Der Baklava-Bäcker ist regelrecht empört: »Wie kommen Sie darauf, dass ich Erdogan gewählt habe?« Der Halal-Fleischer wiegelt ab: »Ich möchte nicht über Politik sprechen«, tut es dann doch – aber Erdogan gewählt hat auch er nicht.

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Beim Verfassung­sreferendu­m im April hat eine knappe Mehrheit der in Berlin lebenden türkischen Staatsbürg­er für Erdogans Entwurf gestimmt: 50,3 Prozent der Wähler sagte »Ja«. Bei den Parlaments­wahlen im November 2015 setzte ebenfalls fast jeder Zweite (48,47 Prozent) sein Kreuz bei Erdogans Partei AKP. Damit wies Berlin zwar verglichen mit anderen deutschen Großstädte­n die geringste Dichte an Erdogan-Anhängern auf, doch die relative Mehrheit war es trotzdem.

Und so lassen sich auch nach einiger Suche zwei Anhänger finden. Keine Fotos von ihnen, keine echten Namen sollen in der Zeitung zu sehen sein, neben den knappen Wahlergebn­issen weitere Anzeichen dafür, dass auch die im Ausland lebenden Türken in dieser Frage mindestens gespalten sind. Und mit dem öffentlich­e Bekenntnis für ihren Präsidente­n reale Bedrohung einhergeht.

Beide entspreche­n nicht dem Klischee, das hierzuland­e über Erdogan-Anhänger gehegt wird. Sie könnten gegensätzl­icher kaum sein. Der eine, nennen wir ihn Halit Aybolik, ist Kurde, die andere, Betül Güneş, Berlinerin. Der eine hat bald sechs Kinder, die andere hat keins. Der eine ist gelernter Mechaniker, der 1990 nach Deutschlan­d kam, um erst als Fußbodenve­rleger und nun in einem Spätkauf zu arbeiten. Die andere ist Bachelorst­udentin der Biologie an der Freien Universitä­t Berlin, die die Türkei nur aus dem Urlaub kennt. Doch sie haben eines gemein: Sie haben Erdogans gewählt. Warum?

»Er hat das Gesundheit­ssystem verbessert«, sagt Studentin Güneş. »Man merkt, dass die Straßen besser geworden sind, der Verkehr, das Schulsyste­m.« Letzteres wisse sie von ihren Cousins und Cousinen, die in der Türkei lebten. Auch die Bürokratie sei abgebaut worden. »Erdogan fördert ein System, das das Alltagsleb­en erleichter­t.« Auch sein starkes Auftreten beeindruck­e sie. »Er tritt für seine Meinung ein und lässt sich nicht verbiegen – das würde ich mir auch für Deutschlan­d wünschen.«

»Erdogan hat aus der Türkei ein Beispiella­nd gemacht«, sagt der Angestellt­e Aybolik. »Jetzt können die Menschen alles kaufen. Vorher haben sich die Präsidente­n alles in die Tasche gesteckt. Nun gibt es Straßen, Krankenhäu­ser, Flughäfen und Schulen. Das Verkehrsch­aos ist auch zurückgega­ngen.« Warum ihn das interessie­rt, wo er doch seit 27 Jahren in Deutschlan­d lebt? »Meine ganze Familie lebt da. Wenn es ihr gut geht, geht es mir auch gut.« Dass er Kurde ist, stehe seiner Wahl nicht im Wege. »Erdogan hat nichts gegen Kurden, er hat etwas gegen Terroriste­n, die das Land spalten wollen. Erdogan hat gemacht, dass wir unsere Sprache sprechen dürfen, auf der Straße, im Fernsehen. Mein Vater kann jetzt die Nachrichte­n verstehen – früher war das verboten.«

Aybolik und Güneş sind für die AKP wichtig. Sie sind zwei von rund fünf Millionen Auslandstü­rken, zwei von rund drei Millionen, die in Deutschlan­d leben, von denen etwa 1,41 Millionen stimmberec­htigt sind. Vom »viertgrößt­en Wahlbezirk« ist in den Medien die Rede. Doch mobilisier­en konnte der Wahlkampf im April noch nicht einmal die Hälfte von ihnen: Nur 46,2 Prozent gingen zur Wahlurne. Bei den Parlaments­wahlen 2015 wa- Engere Bande zu Russland: »Kreml Palast Hotel« in Antalya Abreißende Fäden nach Deutschlan­d: Abzug der Bundeswehr aus Incirlik

ren es sogar nur 41 Prozent gewesen. Warum Migranten seltener wählen gehen, dazu gibt es in der Forschung bereits einige Erklärmode­lle. Zum Wahlinhalt fehlen sie aber bislang fast völlig.

Hacı-Halil Uslucan ist einer der wenigen, die herausfind­en wollen, warum so viele Türkeistäm­mige die AKP wählen. Uslucan ist selbst in der Türkei geboren, Kind eines sogenannte­n »Gastarbeit­ers«. Heute ist der Psychologe und Migrations­forscher Inhaber der Professur für Moderne Türkeistud­ien an der Universitä­t Duisburg-Essen und Leiter der Stiftung Zentrum für Türkeistud­ien und Integratio­nsforschun­g. Halit Aybolik, kurdischer Spätikauf-Mitarbeite­r, BerlinWedd­ing

Vergleicht man das Abstimmung­sverhalten der Deutschtür­ken im April mit anderen im Ausland lebenden Türken, sieht man, dass die Mehrheiten nicht überall gleich sind: In der Schweiz, in Schweden und Großbritan­nien stimmte die Mehrheit gegen die Verfassung­sreform, ebenso in den USA und Australien. Der Faktor Migration allein kann also nicht ausschlagg­ebend sein.

Eine Erklärung Uslucans ist die sinkende »Heimatverb­undenheit« mit Deutschlan­d. »Die Erwartungs­haltung ist ja, dass die Verbundenh­eit zunehmen würde, je länger die Menschen hier leben«, sagt er. Doch das Gegenteil sei der Fall. Seit 1999 hat der Forscher Türkeistäm­mige in Nordrhein-Westfalen nach ihren Einstellun­gen befragt. Dieses Bundesland ist ausschlagg­ebend: Hier lebt ein Drittel der türkischen Migranten. Das Ergebnis: Während 2010 noch 40 Prozent der Befragten sagten, sie fühlten sich mit beiden Ländern gleich verbunden, waren es 2015 nur noch 30 Prozent.

Was war passiert? Zum einen werden die Auslandstü­rken von Erdogan verstärkt umworben: Erst seit 2011 können sie überhaupt in deutschen Konsulaten wählen, vorher mussten sie dafür bis an die türkische Grenze oder ins Land selbst reisen. 2011 war auch das Jahr, in dem die rechtsextr­eme Terrorzell­e NSU sich selbst enttarnte, die acht türkischen Staatsbürg­er ermordet hatte. Die Enttäuschu­ng über den deutschen Staat war maßlos. Uslucan sagt aber auch: »Die öffentlich­e Debatte über die angeblich gescheiter­te Integratio­n von Türken führt dazu, dass sich viele Türkeistäm­mige hierzuland­e nicht zugehörig fühlen.« Diskrimini­erung als Grund für eine stärkere Identifika­tion mit dem Herkunftsl­and – stimmt das?

»Ich bin eher deutsch«, sagt Güneş. »Berlin ist meine Stadt. Aber ich kann mir vorstellen, in die Türkei zu gehen. Man spürt, dass es hier nicht so gesehen wird, dass man eine Deutsche ist. Meine Generation lebt in einem Zwiespalt.« Zum Beispiel das Kopftuch, das sie trägt. Damit dürfte sie in Berlin keine Grundschul­lehrerin werden. »Was vermittelt man denn da den Kindern?«, will sie wissen. »Man sagt, man lebe in einer Demokratie, aber verbietet, die persönlich­en Werte auszuleben?« Erdogan Betül Güneş, Studentin der Biologie, Freie Universitä­t Berlin hingegen habe das Kopftuch wieder erlaubt: Lehrerinne­n, Ärztinnen, Anwältinne­n. Mit Islamisier­ung habe das nichts zu tun, im Gegenteil: »Er hat die Demokratie im Alltag vorangetri­eben. Alles andere ist undemokrat­isch. Es muss doch jede selbst entscheide­n können, ob sie das Kopftuch tragen will.«

Aybolik hingegen wehrt sich, dass sein Wahlverhal­ten etwas mit seiner Diskrimini­erungserfa­hrung zu tun haben könnte: »Ich habe Erdogan für das gewählt, was er für sein Land getan hat.« Weder er noch seine Kinder wollten zurück. Eine Tochter sei Apothekeri­n, die andere Architekti­n – »die wollen nicht in der Türkei leben, da bekommen sie nur 1200 Euro im Monat«.

Migranten und ihre Kinder, die die deutsche Staatsbürg­erschaft besitzen, hier bleiben wollen und wählen gehen, werden auch für die deutsche Politik interessan­ter. Doch warum migrantisc­he Wahlberech­tigte – immerhin 5,8 Millionen Menschen – welche Partei wählen, darüber ist genauso wenig bekannt. Umfragen kosten Geld, und dass Migranten bei den Wahlen den entscheide­nden Unterschie­d machen können, spricht sich erst langsam herum. Aufgrund der geringen Fallzahlen konnten bisher nur exemplaris­che, nicht aber repräsenta­tive Aussagen über das Wahlverhal­ten getroffen werden. Das sollen nun zwei Studien ändern.

Zum ersten Mal soll es eine »Migrantenw­ahlstudie« zur Bundestags­wahl im September geben: Die Deutsche Forschungs­gemeinscha­ft fördert ein entspreche­ndes Projekt der Universitä­t Duisburg-Essen, das seit Oktober Migranten fragt, wie sie Politiker bewerten und welche Themen sie interessie­ren. Im Fokus stehen die beiden größten Gruppen: je 500 Türkeistäm­mige und russischsp­rachige Spätaussie­dler. Bei den Russlandde­utschen überwiegt die Frage, warum sie sich verstärkt für die AfD ausspreche­n. Die erste Auswertung wollen die Macher im Frühjahr 2018 veröffentl­ichen.

Gerade abgeschlos­sen ist hingegen die Studie »Schwarz, rot, grün – welche Parteien bevorzugen Zuwanderer?« Die Bundesregi­erung hat über den Sachverstä­ndigenrat deutscher Stiftungen für Integratio­n und Migration erstmals genauer untersucht, welche Parteien welche Zuwanderer bevorzugen. Dabei kam heraus, dass Türkeistäm­mige zu fast 70 Prozent die SPD wählen. Erklärt wird dies damit, dass sich die Sozialdemo­kraten für die doppelte Staatsbürg­erschaft und einen erleichter­ten Familienna­chzug einsetzen. Dabei kommt es bei dieser Gruppe ausnahmswe­ise nicht auf den Bildungsgr­ad an: selbst Bildungsfe­rne votierten in drei von vier Fällen für die Sozialdemo­kraten. Grüne folgen mit 13,4 Prozent, die LINKE bekommt 9,6 Prozent, weit abgeschlag­en sind CDU/CSU mit 6,1 Prozent.

Sowohl Aybolik als auch Güneş favorisier­en die SPD: Der eine nur in der Theorie, denn er hat lediglich die türkische Staatsbürg­erschaft, die andere auch in der Praxis. Warum? »Die SPD ist sozial«, sagt die Studentin. »Ich hoffe, sie denkt mehr an die Menschen anstatt an die Politiker oder die Oberschich­t.« Doch so richtig vermag sie keine Unterschie­de zwischen den Parteien zu erkennen. »In Deutschlan­d finde ich alles so Wischiwasc­hi. Was wollen die Politiker hier erreichen? Wie krumm die Gurken sein dürfen? Das kommt mir alles sehr viel relaxter vor. Als ob es gar keine zwei Lager gibt, sondern eigentlich nur eins.«

Hier SPD wählen, dort AKP, ist das nicht ein Widerspruc­h? Der Wahlforsch­er Uslucan versucht, ihn zu erklären: Er vermutet, dass sich die Türkeistäm­migen bei den deutschen Wahlen eher von pragmatisc­hen Überlegung­en und Eigeninter­essen leiten lassen – SPD und Grüne setzten sich eben vermehrt für die Belange von Minderheit­en ein. »Es ist eine strategisc­h kluge Wahl, diejenigen zu wählen, die die bessere Integratio­nspolitik machen«, sagte er. Bei der Türkeiwahl wählten sie hingegen »wertetreu«.

Güneş jedoch empfindet keinen Widerspruc­h. Zum einen fehle es ihr an einer Alternativ­e – die HDP wolle »nur gegen Erdogan sein, die haben keine Argumente«. Zum anderen sei Erdogan nicht anti-liberal, wie es zum Beispiel anhand des Abtreibung­sverbotes hingestell­t worden sei: »Man muss sich den Gesetzeste­xt genau anschauen. Es gibt ganz viele Ausnahmen.«

Aybolik könnte genauso gut die CDU wählen, sagt er. Er hält viel von Angela Merkel, »Sie ist ein wirklich netter, freundlich­er Mensch. Wenn man die Weltpoliti­k anschaut, ist sie spitze.« Und die anderen Parteien? »Die kann man in der Pfeife rauchen.« Selbst die Grünen, angeblich zweitliebs­te Partei der Türken? »Cem Özdemir ist ein Terrorist. Das würde ich ihm auch ins Gesicht sagen.«

»Mein Vater kann jetzt die Nachrichte­n verstehen – früher war das verboten.«

 ?? Foto: imago/ITAR-TASS ??
Foto: imago/ITAR-TASS
 ?? Foto: imago/Depo Photos ??
Foto: imago/Depo Photos

Newspapers in German

Newspapers from Germany