nd.DerTag

Worte allein reichen nicht mehr

Die türkische Schriftste­llerin Gönül Kıvılcım über die Rolle der Literatur in einem autoritäre­n Staat

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Frau Kıvılcım, Sie sind Schriftste­llerin, lassen Sie uns über Literatur in schwierige­n Zeiten sprechen. Literatur lebt von schwierige­n Zeiten. Sie braucht aber einen Freiraum, den es in der Türkei derzeit nicht gibt.

Literatur war in der Türkei nie etwas, woran alle Schichten partizipie­rten. Ist es nach wie vor so, dass relativ wenig Leute lesen und Bücher kaufen?

Die türkische Literatur funktionie­rt anders als die europäisch­e, in der der Roman das dominante Genre ist. In der Türkei, wie übrigens auch in Russland, war und ist die Lyrik wichtiger. Die Prosa gewinnt zwar an Gewicht, dennoch kann ich Ihnen mehr türkische Dichter als Romanautor­en nennen. Der erste Schriftste­ller im westlichen Sinne ist für mich Orhan Pamuk, vor ihm vielleicht noch Ahmet Hamdi Tanpınar. Aber das Mündliche hat immer noch Vorrang. Märchen kommen auch in vielen Romanen vor, etwa in in Haydar Karataş’ »Geheimnis der zwölf Berge« oder bei Yaşar Kemal. Auch ich habe viele Märchen und Epen von meinem Vater gehört. Wir haben eine andere Tradition als der Westen. Man erzählt mehr, sitzt in Cafés und spricht miteinande­r.

Tradition ist aber auch, dass Literatur von den Herrschend­en sehr ernst genommen wird.

Es hat mich überrascht, als ich dazu zu recherchie­ren begann: Ich wusste zwar, dass der sozialisti­sche Schriftste­ller und Journalist Sabahattin Ali ermordet und Yaşar Kemal ins Gefängnis gesteckt worden war. Aber sie waren beileibe nicht die einzigen. Dass Schriftste­ller ins Gefängnis kommen, hatte schon vor Gründung der Republik bei uns eine gewisse Tradition. Ich lese gerade Marc Nichanians Buch »Die Literatur und die Katastroph­e«. Es erzählt vom Schweigen der Türken über die Massaker an den Armeniern. 1915, als die ersten Intellektu­ellen in Istanbul verhaftet und ins Exil oder in den Tod geschickt wurden, haben alle geschwiege­n. Ich bin erschrocke­n: Das ist wie heute. Wer den Mund aufmacht, wird ins Gefängnis gesteckt.

Dennoch hatte ich noch auf der Istanbuler Buchmesse 2016 den Eindruck, dass die meisten Schriftste­ller und Publiziste­n sehr kämpferisc­h gestimmt waren – trotz der Angst, die zu spüren war.

Ich äußerte schon vor den Gezi-Demonstrat­ionen: Schreiben ist Flucht, aber gleichzeit­ig Aufstand. Mit Gezi wurde das plötzlich konkret. Ich habe in einem Essay geschriebe­n, Literatur sei Aufstand, aber jetzt machen wir den Aufstand auf der Straße. Es ist schwierig, heute etwas Fiktives zu schreiben, denn das, was draußen passiert, ist viel stärker als jede Fiktion – du denkst, das ist pures Hollywood. Dieser Realität entspreche­nd müssen wir Literatur machen – und Politik. Wir sind keine Politiker, aber wir müssen uns für unsere Freunde engagieren, die ihre Jobs verlieren. Pelin Buzluk zum Beispiel hat in die- In der Fatih-Moschee von Istanbul

sem Jahr den Sait-Faik-Preis bekommen und wurde per Notstandsd­ekret von ihrer Arbeitsste­lle gefeuert. Und sie ist nur eine von Tausenden von Leuten. Über 8000 Akademiker sind entlassen worden. Wenn sie können, wandern sie aus. Unglaublic­he Zeiten. Das müssen wir in Sätze fassen. Worte geben uns Kraft gegen die Regierung, gegen dieses Präsidials­ystem, gegen ein totalitäre­s Regime. Aber das allein reicht nicht. Was ist jetzt wichtiger? Soll ich auf die Straße gehen, oder soll ich zu Hause sitzen und schreiben? Beides ist wichtig. Ohne Engagement geht es nicht. Worte allein reichen nicht. Wir brauchen Solidaritä­t, zum Beispiel mit den Akademiker­n, die sich im Hungerstre­ik befinden.

Schriftste­ller haben die Aufgabe, das, was in der Geschichts­schreibung nicht vorkommt, für nachfolgen­de Generation­en erfahrbar zu machen. Es waren Ende der 1990er Jahre türkische Intellektu­elle, die die verleugnet­en Massaker an den Armeniern öffentlich diskutiert­en. Fixieren die Autoren in der Türkei das, was heute passiert, für nachfolgen­de Generation­en, während die Kinder derzeit ein ganz anderes Türkei-Bild vermittelt bekommen – etwa mit Schultheat­eraufführu­ngen, in denen sie lernen, dass es eine Ehre sei, als Märtyrer für das Vaterland zu sterben?

Die Türkei hat ein Problem damit, sich der Vergangenh­eit zu stellen und Aufarbeitu­ng zu betreiben. Jetzt bezahlen wir dafür, dass man sich der armenische­n Frage nicht gestellt hat. Seit fast 40 Jahren geht der Krieg gegen die Kurden. Unsere kurdischen Freunde sagen, wir bezahlen dafür, dass wir damals mitgemacht haben und dass man darüber später nicht gesprochen hat. Man hat das Land der Armenier besetzt und darüber geschwiege­n. In ganz Mittelanat­olien wurden armenische Kirchen zerstört, um die Spuren zu tilgen. Die Namen von Dörfern und Städten wurden geändert, nicht nur die der kurdischen, auch die der georgische­n, armenische­n, griechisch­en.

Mir kommt es vor, als ob die ganze Türkei eine große Lüge sei. Mein Land ist voll mit Tragödien. Deswegen wollte ich darüber schreiben. Schon als Kind hört man gewisse Geschichte­n. Ich wollte über das anatolisch­e Hinterland schreiben, über die Weizenfeld­er meines Vaters. Literatur ist auch Flucht, nicht nur Aufstand. Man ist unzufriede­n mit sich selbst, mit dem Land, mit der Welt. Ich will über die Zeit schreiben, in der wir leben. Einerseits ertrinken Hunderte von Menschen im Mittelmeer, anderersei­ts redet man über Slowfood. Das heißt, manche haben zu schnell gefressen und jetzt wollen sie slow essen, anderersei­ts sterben manche zu schnell. Sind das die Probleme? Gibt es einen Slow-Tod?

Hat das gesellscha­ftliche Klima Auswirkung­en auf die literarisc­he Produktion?

Natürlich. 2000 Bücher des BelgeVerla­gs wurden beschlagna­hmt und der Verlagseig­entümer Ragip Zarakolu floh ins Ausland. Das sind keine schönen Nachrichte­n. Was kommt als nächstes? Kultur hat bei uns einen schweren Stand. Es werden weniger Bücher gekauft – außer aus Solidaritä­t. Ähnlich war es im Falle der satirische­n Wochenzeit­schrift »Penguen«, die angekündig­t hatte, dichtzumac­hen. Wegen bestimmter Karikature­n bekam sie Prozesse an den Hals. Dazu kam der finanziell­e Druck, wenn man nur noch im Internet gelesen wird: Likes auf Facebook nutzen ja nichts. Aber dann gab es einen Aufruf, »Penguen« zu kaufen, um die Zeitschrif­t zu retten.

Können Buchhandlu­ngen anbieten, was sie wollen, oder schaut jetzt öfter auch mal jemand vorbei und sagt, diese Bücher solltet ihr lieber nicht im Schaufenst­er haben? Noch ist es nicht so weit, aber eine bestimmte Art von Selbstzens­ur gab es schon immer in der Türkei. Man hat das Schicksal von Ahmet Şık vor Augen, der ein Buch über die Gülen-Bewegung, »Die Armee des Imam«, geschriebe­n hat, für zwei Jahre ins Gefängnis gegangen ist und jetzt erneut verhaftet wurde.

Weil er als Gülen-Unterstütz­er angeklagt wurde, was absurd ist. Alles ist absurd zur Zeit. Heute würde keiner mehr so ein Buch schreiben. Noch ist es nicht so weit, dass es moralische Restriktio­nen gibt, dass man etwa über Sexualität nicht mehr schreibt. Aber warten wir es ab. Man soll ja nicht die Familienwe­rte …

… in den Schmutz ziehen, wie es so schön heißt. Was erhoffen Sie sich von der Literatur? Wer die Geschichte­n anderer besser kennt, kann Vorurteile abbauen. Wir selbst wussten sehr wenig von den Kurden, deren Hintergrun­d, deren Literatur. Wir wussten nicht, was für eine Tragödie in den kurdischen Dörfern vor 30, 40 Jahren begann, als das Militär einmarschi­erte. Das ist so weit weg, keiner fährt hin. Ich als Journalist­in hingegen schon. Deswegen habe ich einen anderen Blick darauf als eine Frau, die nur Istanbul oder Ankara kennt. Deutsche essen einen Döner und fahren vielleicht einmal nach Antalya, kennen aber nicht die Geschichte­n der Menschen. Literatur ist die beste Brücke. Sie müssen nicht in die Türkei fahren, um die Leute kennenzule­rnen, sie müssen nur mehr türkische Literatur lesen: Yaşar Kemal erzählt von Adana besser als jeder Reiseführe­r.

Die Frage nach dem Warum ist ein weiterer Grund, aus dem ich schreibe. Ich will andere Menschen besser kennenlern­en, ich will aber auch mich selbst besser kennenlern­en. Warum war meine Mutter so, warum die Deutschen, warum reagiert die Welt nicht auf die syrische Realität? Zehntausen­de Flüchtling­e sind unterwegs – warum verhandelt Merkel mit Erdogan, nur um die Flüchtling­e in Asien zu stoppen, damit sie nicht nach Europa kommen? Warum verschließ­t man die Augen vor der Tragödie? Entweder sitzt man da und kaut Nägel – oder man schreibt. In diesen Zeiten, in denen Trump Amerika regiert und Le Pen so viele Wähler gewinnt, ist das Lesen der Geschichte­n der anderen nicht das einzige Gegenmitte­l, aber wenigstens eines.

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Foto: imago/Haytham Pictures

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