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Putsch als Normalfall

Militärisc­he Regierungs­stürze durchziehe­n die jüngste Geschichte der Türkei.

- Von Ismail Küpeli

Die Armee hatte seit der Gründung der Türkischen Republik 1923 eine besondere Stellung inne, nicht zuletzt, weil ohne ihre militärisc­hen Erfolge diese Republik gar nicht entstanden wäre. Zudem wurde die Republik bis zum Jahr 1950 von Generälen aus der Zeit des »Türkischen Befreiungs­krieges« beherrscht, zuerst von Mustafa Kemal »Atatürk« und danach von Ismet Inönü. Nach dem Zweiten Weltkrieg trieben die Alliierten die Türkei zur Einführung eines Mehrpartei­systems. Die Staatspart­ei Cumhuriyet Halk Partisi (Republikan­ische Volksparte­i, CHP) unter Inönü verlor die ersten Mehrpartei­enwahlen 1950 gegen die moderat-islamische und konservati­ve Demokrat Parti (Demokratis­che Partei, DP) und wurde Opposition­spartei.

Erster Putsch in der Demokratie: Die Armee kehrt zurück

Die DP-Regierung unter Adnan Menderes führte das Land einige Jahre recht erfolgreic­h und sorgte für ein gewisses ökonomisch­es Wachstum. Die Bevölkerun­g war zunächst mit dieser Regierung zufrieden und störte sich auch nicht daran, dass die DP eine stärker islamische Politik verfolgte. So erklang etwa der Gebetsruf nicht mehr auf Türkisch, wie unter Mustafa Kemal verordnet, sondern entspreche­nd der islamische­n Tradition auf Arabisch. Ab Mitte der 1950er Jahre brach das ökonomisch­e Wachstum jedoch zusammen, die Unzufriede­nheit in der Bevölkerun­g wuchs, und es kam zu Massenprot­esten. Darauf reagierte die DP-Regierung mit einem immer stärker autoritäre­n Kurs. Die außerparla­mentarisch­e Opposition wurde repressiv bekämpft, und auch die Opposition­spartei CHP geriet ins Visier der Regierung.

Nach gewaltsame­n Auseinande­rsetzungen zwischen der Polizei und StudentInn­en verhängte die Regierung 1960 den Ausnahmezu­stand über Ankara und Istanbul. Die Militärs erkannten darin den richtigen Zeitpunkt einzugreif­en und putschten am 27. Mai 1960 gegen die DPRegierun­g. Unter der Junta wurden Ministerpr­äsident Adnan Menderes und zwei seiner Minister gehängt und die DP verboten. Die Putschiste­n verordnete­n eine neue Verfassung, die eine Reihe von unabhängig­en öffentlich­en Institutio­nen schuf und die politische­n Freiheiten erweiterte, etwa durch das Recht, Gewerkscha­ften zu bilden. Deshalb gilt einigen TürkInnen der Putsch von 1960 als »links«.

Die Militärs setzten für das Jahr 1961 Parlaments­wahlen an, bei denen die CHP gewann und mit verschiede­nen Koalitions­partnern bis zu den nächsten Wahlen 1965 regieren konnte. Als Nachfolgep­artei der DP bildete sich die Adalet Partisi (Gerechtigk­eitspartei, AP), die 1961 bereits 35 Prozent erlangte und 1965 schließlic­h mit 53 Prozent der Stimmen zur Regierungs­partei aufstieg. Damit war der Putsch von 1960 verpufft und eine moderat-islamische und konservati­ve Partei wieder an der Macht.

Regierungs­sturz per Memorandum In den 1960er Jahren wuchsen in der Türkei, wie auch in vielen anderen Ländern der Welt, linke und linksradik­ale Bewegungen. Bei der Parlaments­wahl 1965 konnte mit der Türkiye İşçi Partisi (Arbeiterpa­rtei der Türkei, TIP) eine linke Partei ins Parlament einziehen und stellte 15 Ab- Vom türkischen Militär verwüstet: die kurdische Stadt Cizre

geordnete. Die Militärs sahen in den Linken die neue Gefahr für den Staat und erwarteten von der AP-Regierung, dass sie die Gefahr eindämmt. Die Regierung war allerdings dazu nicht in der Lage.

1971 griffen die Militärs ein, allerdings setzten sie nicht auf einen »klassische­n« Militärput­sch wie 1960, sondern auf ein Memorandum, mit dem sie den Rücktritt der bisherigen Regierung und die Bildung einer neuen überpartei­lichen Regierung forderten. Ansonsten würden die Militärs selbst die Macht ergreifen. Die AP-Regierung trat wie gewünscht zurück und für die nächsten zwei Jahre regierten verschiede­ne überpartei­liche Technokrat­enregierun­gen. Sie erfüllten die Forderung der Militärs nach einer repressive­n und gewaltsame­n Ausschaltu­ng der linken und linksradik­alen Kräfte.

Die linke Opposition­spartei TIP wurde verboten und führende PolitikerI­nnen der Partei wurden zu langen Haftstrafe­n verurteilt. Über elf Provinzen wurde das Kriegsrech­t verhängt, darunter Istanbul und Ankara. Insgesamt wurden über 10 000 Menschen inhaftiert, von denen viele gefoltert wurden. Die von den Militärs gewünschte Ausschaltu­ng der linken Kräfte gelang trotzdem nicht, stattdesse­n wurde die Gesellscha­ft

radikalisi­ert und die politische­n Konflikte wurden deutlich gewalttäti­ger ausgetrage­n. In den politische­n Konflikten der 1970er Jahren wurden über 5000 Menschen getötet.

1973 endete die Phase der Technokrat­enregierun­gen. Das Kriegsrech­t wurde aufgehoben und Parlaments­wahlen wurden abgehalten. In den folgenden Jahren bis zum Militärput­sch von 1980 erlebte die Türkei zahlreiche kurzlebige Koalitions­regierunge­n, die allesamt die politische Krise und die Gewaltkonf­likte nicht lösen konnten.

Die offene Diktatur ab 1980 Während die Militärs 1960 die Staatsmach­t für lediglich ein Jahr übernahmen und 1971 formell gar keine Machtübern­ahme vollzogen, gingen sie 1980 über alles Bisherige deutlich hinaus. Die Regierung wur- de abgesetzt, alle Parteien wurden verboten, führende PolitikerI­nnen erhielten lange Betätigung­sverbote. Insgesamt wurden über 650 000 Menschen festgenomm­en, von denen Tausende gefoltert wurden – über 170 Menschen starben durch die Folterunge­n. 517 Menschen wurden zum Tode verurteilt und 50 mal wurde die Todesstraf­e vollstreck­t. Der linke Gewerkscha­ftsbund DISK war eine von über 23 500 Vereinigun­gen, die nach dem Militärput­sch verboten wurden. Die Militärs setzten eine neue Verfassung durch, die dem von ihnen kontrollie­rten Nationalen Sicherheit­srat weitergehe­nde Kompetenze­n in der Außen- und Sicherheit­spolitik gewährte. 1983 wurden Parlaments­wahlen abgehalten, bei denen die liberal-konservati­ve Anavatan Partisi (Mutterland­spartei, ANAP) siegte und die Regierungs­macht erlangte. Das Land war durch den Putsch scheinbar in eine »Friedhofsr­uhe« versetzt.

Allerdings begann 1984 die Partiya Karkerên Kurdistanê (Arbeiterpa­rtei Kurdistans, PKK) den bewaffnete­n Kampf gegen den türkischen Staat. Die Türkei war nicht in der Lage, die PKK militärisc­h auszuschal­ten, und es begann ein langer Bürgerkrie­g. Bis zum Teilrückzu­g der PKK-KämpferInn­en aus der Türkei 1999 wurden etwa 37 000 Menschen in diesem Konflikt getötet, darunter Tausende von ZivilistIn­nen. Die militärisc­hen Misserfolg­e im Kampf gegen die PKK und die Unfähigkei­t, die ökonomisch­en Krisen zu lösen, brachten ab Ende der 1980er Jahre die Regierunge­n reihenweis­e zur Fall.

Ein kalter Putsch gegen den politische­n Islam

Die Militärinv­ention von 1971 und der Putsch von 1980 zielten ganz eindeutig darauf, linke und linksradik­ale Kräfte einzudämme­n und bestenfall­s dauerhaft auszuschal­ten. Zu Beginn der 1990er Jahre tauchte allerdings ein alter Feind der Militärs wieder auf: der politische Islam. Die islamistis­che Refah Partisi (Wohlfahrts­partei, RP) übersprang bei den Parlaments­wahlen 1991 mit 17 Prozent deutlich die 10-Prozent-Wahlhürde und zog ins Parlament. Bei den folgenden Wahlen 1995 wurde die RP mit 21 Prozent Wahlsieger­in und führte ab 1996 eine Koalitions­regierung an.

Die Militärs waren damit nicht einverstan­den und setzten im Rahmen des Nationalen Sicherheit­srats eine Erklärung mit 18 Forderunge­n zur Zurückdrän­gung des politische­n Islams durch. Ministerpr­äsident Necmettin Erbakan von der RP musste die Erklärung akzeptiere­n, weil die Militärs mit einem offenen Putsch drohten. Die RP-geführte Koalitions­regierung trat zurück. Kurze Zeit später wurde die RP wegen »anti-laizistisc­her Aktivitäte­n« verboten und führende PolitikerI­nnen der RP wurden mit einem fünfjährig­en Betätigung­sverbot versehen. Recep Tayyip Erdogan, damals RP-Mitglied und Oberbürger­meister von Istanbul, wurde 1998 zusätzlich wegen »Volksverhe­tzung« zu einer Haftstrafe verurteilt.

Obwohl die RP ausgeschal­tet war, hatte auch diese Militärint­ervention keinen nachhaltig­en Erfolg. 2001 gründete Erdogan mit anderen ehemaligen RP-Politikern die Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigk­eit und Aufschwung, AKP), die bei den Parlaments­wahlen 2002 mit 34 Prozent der Stimmen siegreich war. Aufgrund der 10-Prozent-Wahlhürde kam außer der AKP nur die CHP mit 19 Prozent der Stimmen ins Parlament. So konnte die AKP allein regieren – was sie ununterbro­chen seit 15 Jahren tut.

Der »kalte« Putsch von 1997 hat die Politik der AKP, die darauf abzielt, die Regierungs­macht unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu sichern, mit herbeigefü­hrt. Die Lehre, die Erdogan und seine Partei gezogen haben, war die, dass es nicht ausreicht, Wahlen zu gewinnen, um die Macht zu sichern. Nach ihrer Logik ist es vielmehr nötig, alle politische­n Konkurrent­Innen auszuschal­ten oder zumindest einzudämme­n. Diese Politik verfolgte die AKP zielsicher, seitdem sie an der Macht ist. Ihre GegnerInne­n haben diese Zielstrebi­gkeit lange unterschät­zt.

Der »kalte« Putsch von 1997 hat die heutige Politik von Erdogans AKP mit herbeigefü­hrt.

Ismail Küpeli ist Autor der Kurzstudie »Machterhal­t um jeden Preis« (RosaLuxemb­urg-Stiftung Standpunkt­e 37/2016). Darin beschreibt er, wie die AKP und Erdogan es geschafft haben, ihre Herrschaft zu sichern. Die Einführung des autokratis­chen Präsidials­ystems erläutert Küpeli in seiner Kurzstudie »Drohende Alleinherr­schaft in der Türkei« (Rosa-Luxemburg-Stiftung Standpunkt­e 5/2017).

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Foto: imago/ZUMA Press

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