Den Zeitstrahl umdrehen
In die Zukunft können Menschen sich bereits bewegen. Doch sind auch Reisen in die Vergangenheit möglich?
Die Idee ist uns aus vielen Büchern und Filmen vertraut: Ein Mensch steigt in eine Zeitmaschine, drückt auf ein paar Knöpfe und ab geht die Reise in die Zukunft oder Vergangenheit. Der Erste, der ein solches Geschehen in eine spannende Erzählung verpackte, war der britische Historiker Herbert George (H.G.) Wells. In seinem Science-Fiction-Klassiker »Die Zeitmaschine« gelangt eine anonyme Person durch die vierte Dimension ins Jahr 802 701 und mithin auf eine völlig veränderte Erde. Deren Oberfläche ist von den sogenannten Eloi besiedelt, infantilen und freundlichen Wesen, die sorglos in den Tag hinein leben. Unter der Erde hausen die Morlocks, hässliche und finstere Kreaturen, die sich die Eloi wie Mastvieh halten, um sie zu gegebener Zeit als Nahrung nutzen zu können.
So sehr diese Schilderung der Zukunft auch in den Problemen der damaligen Zeit wurzelt (fortschreitende Industrialisierung, Streit um die Darwinsche Abstammungslehre etc.), ist eines verblüffend: Wells schrieb seinen Roman 1895, also zehn Jahre vor Begründung der speziellen Relativitätstheorie durch Albert Einstein. In dieser Theorie wurde erstmals an der Newtonschen Vorstellung gerüttelt, dass die Zeit gleichmäßig und unbeeinflusst von allem materiellen Geschehen verläuft. Ihr Gang ist vielmehr vom Bewegungszustand des Beobachters abhängig. Vereinfacht gesagt vergeht die Zeit umso langsamer, je schneller man sich bewegt.
Reisen in der Zeit sind demzufolge nicht nur möglich, sie lassen sich auch relativ einfach realisieren. Zumindest wenn es in Richtung Zukunft geht. Was man hierzu braucht, ist allerdings keine Zeitmaschine à la Wells, die unbeweglich auf der Erde steht. Vielmehr benötigt man eine extrem schnelle Rakete, mit welcher der Zeitreisende eine Weile durch den Kosmos fliegt. Kehrt er dann zur Erde zurück, ist für die Menschen dort mehr Zeit verstrichen als für ihn selbst. Er wäre also bezogen auf die Erde in der Zukunft gelandet. Zeitreisen dieser Art haben schon häufig stattgefunden. Den Rekord hält gegenwärtig der russische Kosmonaut Gennadi Iwanowitsch Padalka. Bei fünf Weltraummissionen weilte er 878 Tage im All und raste an Bord der Raumstationen Mir und ISS mit einer Geschwindigkeit von rund 27 000 Stundenkilometern um die Erde. Dadurch ist Padalka um Bruchteile einer Sekunde weniger gealtert als der Rest der Menschheit und mithin um diesen winzigen Zeitbetrag in die Zukunft gereist.
Größere Geschwindigkeiten machen den Effekt deutlicher. Würde ein Raumfahrer die Erde mit 99,995 Prozent der Lichtgeschwindigkeit verlassen, zu einem Stern im Sternbild Orion fliegen und von dort im selben Tempo zurück, bräuchte er dafür ungefähr zehn Jahre. Auf der Erde wären mittlerweile mehr als tausend Jahre vergangen. Der Raumfahrer würde also in einer ihm gänzlich fremden Zukunft landen. Ein Weg zurück aus dieser Zukunft bliebe ihm allerdings verwehrt. Die tausend »übersprungenen« Jahre wären für ihn gleichsam verloren.
Das alles ist keine Science-Fiction, sondern angewandte Relativitätstheorie, aus der überdies folgt, dass neben der Geschwindigkeit auch die Schwerkraft die Zeit verlangsamt. Auf der Erde macht sich dieser Effekt kaum bemerkbar. Anders auf einem Neutronenstern. Hier wird die Zeit auf Grund der enormen Gravitation um rund 20 Prozent gegenüber der Zeit auf der Erde gedehnt. Es ist sogar denkbar, dass die Zeit relativ zur Erde stillsteht: an der Oberfläche bzw. dem Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs. Ein solch bizarres kosmisches Gebilde verschlingt bekanntlich alles, was ihm zu nahe kommt. Würde ein Raumfahrer aus nächster Nähe in ein Schwarzes Loch stürzen, verginge in der kurzen Zeitspanne, in deren Verlauf er die Oberfläche erreichte, im restlichen Universum eine Ewigkeit, erklärt der australische Physiker und Zeitforscher Paul Davies. »Würde der Astronaut ein Schwarzes Loch nur streifen und danach entkommen, was zweifellos ein fantastisches und halsbrecherisches Manöver wäre, könnte er sehr weit in die Zukunft gelangen.«
In seinem preisgekrönten und verfilmten Roman »Contact« (1985) lässt der US-amerikanische Astrophysiker Carl Sagan seine Heldin einen gewaltigen Raumzeitsprung dadurch vollführen, dass er sie durch ein Wurmloch zu einer etwa 25 Lichtjahre entfernten Zivilisation schickt. Ein Wurmloch ist ein theoretisches Gebilde, das in den Lösungen der Einsteinschen Feldgleichungen der Gravitation auftaucht. Dabei werden zwei Raumzeitpunkte, die sehr weit voneinander entfernt sind, auf kurzem Wege über eine zusätzliche Dimension miteinander verbunden. Veranschaulichen kann man dies am Beispiel eines Apfels, auf dessen Oberfläche ein Wurm vom obersten zum untersten Punkt gelangen möchte. Im Zweidimensionalen müsste er, um sein Ziel zu erreichen, außen auf der Apfelschale entlang krabbeln. Würde er hingegen die dritte Dimension nutzen, könnte er sich einfach durch den Apfel durchfressen und wäre so viel schneller unterwegs.
Physiker glauben, dass Wurmlöcher für Zeitreisen sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit geeignet seien. Außerdem hätten sie gegenüber einem Schwarzen Loch den Vorteil, dass sie nicht nur über einen Eingang, sondern auch über einen Ausgang verfügen. Allerdings würde kein Mensch beim Durchqueren die dabei auftretenden immensen Gravitationskräfte schadlos überstehen. Es sei denn, das Wurmloch ließe sich durch eine antigravitativ wirkende Materie stabilisieren, von der derzeit aber niemand weiß, ob sie überhaupt herstellbar ist. Doch selbst wenn man ein Wurmloch auf diese Weise offen halten könnte, meint Sean Carroll vom California Institute of Technology in Pasadena (USA), dürfte es, sobald Materie sich hindurch bewegt, zu einem Schwarzen Loch kollabieren. »Wir sind zwar nicht hundertprozentig sicher, dass das passiert, aber es scheint eine vernünftige Annahme zu sein, dass das Universum den Bau einer Zeitmaschine dadurch verhindert, dass es diese in ein Schwarzes Loch verwandelt.«
Das gilt namentlich für Zeitreisen in Richtung Vergangenheit. Denn diese werfen nicht nur physikalische, sondern auch erhebliche logische Probleme auf. Am bekanntesten ist das sogenannte Großvaterparadoxon. Danach könnte sich ein junger Mann in die Vergangenheit begeben und dort seinen Großvater umbringen, noch bevor dieser dazu gekommen wäre, die Großmutter kennenzulernen. Dann aber hätte der junge Mann eigentlich gar nicht existieren und folglich auch seinen Großvater nicht töten können. Zeitreisen in die Vergangenheit werden immer dann widersinnig, wenn man die kausale Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart mit der uneingeschränkten Willensfreiheit von Menschen kombiniert. Manche Wissenschaftler behelfen sich deshalb mit der Annahme, dass bei Zeitreisen in die Vergangenheit keine Kausalitätsverletzungen erlaubt sind. Würde es also zum Beispiel gelingen, jemanden zurück ins Jahr 1933 zu befördern, könnte er dem historischen Geschehen nur tatenlos zusehen und nichts dagegen tun, dass Hitler an die Macht kommt.
Bei all solchen Konstruktionen bleibt unklar, wo die bereits erloschene Vergangenheit, in die jemand reisen möchte, zwischendurch weiterexistiert. Streng genommen müssten sämtliche Vergangenheiten »irgendwo« konserviert werden, was gänzlich absurd scheint. Überdies ginge eine Reise in die Vergangenheit zumindest teilweise mit einer Umkehr des Zeitpfeils einher. Das aber widerspräche dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, demzufolge eine Umkehr der Zeitrichtung praktisch ausgeschlossen ist.
Nach allem, was wir wissen, hat bislang noch kein Tourist aus der Zukunft die Erde besucht. Das lässt darauf schließen, dass auch höher entwickelte Zivilisationen im All, sofern es sie gibt, noch keine Möglichkeit gefunden haben, solche Reisen zu realisieren. Paul Davies sieht das etwas anders: »Wurmlöcher können zwar dazu dienen, in der Zeit vorwärts und rückwärts zu reisen, aber man kann keines dazu verwenden, eine Zeit aufzusuchen, in der dieses Wurmloch noch nicht hergestellt war.«
Ein weiteres Hindernis für Zeitreisen in die Vergangenheit stellt die Chaostheorie dar. Danach kann in instabilen Systemen schon die Bewegung eines einzelnen Teilchens ausreichen, um die Entwicklung des Systems unvorhersehbar in verschiedene Richtungen zu lenken. Würde man also ein oder mehrere Teilchen in die Vergangenheit transportieren, könnten sie dort den weiteren Verlauf der Dinge ebenfalls in chaotischer Weise so verändern, dass die Gegenwart, aus der die Teilchen gestartet wurden, gar nicht entstünde. Manche Wissenschaftler erwarten die Lösung aller Kausalitätsprobleme bei Zeitreisen von der Quantenphysik und fordern dabei nicht weniger als eine radikale Korrektur der herkömmlichen Philosophie. Statt zu glauben, dass es nur eine »wirkliche« Welt gebe, meint Davies, sollten wir lieber annehmen, dass davon unendlich viele parallel existierten. Auf diese Weise ließen sich die schlimmsten Paradoxa vermeiden. So würde zum Beispiel ein Zeitreisender, der in der Vergangenheit seinen Großvater tötete, die Wirklichkeit augenblicklich in zwei Welten spalten. In der einen Welt wäre sein Großvater für immer tot, und er selbst würde darin niemals existieren. In der anderen Welt, in die er sogar zurückkehren könnte, liefe sein eigenes Leben weiter.
Hin- und hergerissen, was Zeitreisen angeht, ist seit Jahren der bekannte britische Physiker Stephen Hawking. Einerseits möchte er keine Wette darauf abschließen, dass es ein Zurück in die Vergangenheit nicht gibt. Andererseits ist ihm die kosmische Zeitordnung ein so hohes Gut, dass er vorschlägt, deren Unverletzlichkeit ad hoc zu einem allgemeinen physikalischen Postulat zu erheben – ähnlich dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, der als Erfahrungsprinzip in seiner Allgemeingültigkeit bisher ebenfalls nicht bewiesen werden konnte. »Die Natur wird immer ein Hindernis finden«, meint Hawking, »damit Reisen in die Vergangenheit niemals gelingen und die Welt für Historiker in Ordnung bleibt.« Viele dürften das Gleiche hoffen, denn zu abwegig sind die Konsequenzen, die mit einer Zeitreise in die Vergangenheit einhergehen. Andererseits haben Wissenschaftler schon manches verboten, was ihnen absurd erschien – und dann ist es doch eingetroffen.
»Die Natur wird immer ein Hindernis finden, damit Reisen in die Vergangenheit niemals gelingen und die Welt für Historiker in Ordnung bleibt.« Stephen Hawking