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Eine Landschaft im Karomuster

Die Region um Ustka an der polnischen Ostseeküst­e entwickelt sich zu einem Ganzjahres­reiseziel.

- Von Cornelia Höhling

Nahezu jeder grapscht ihr an die Brust. Und das ausgerechn­et hier, wo für Männer und Frauen einst getrennte Badestelle­n eingericht­et waren. Doch ein Schild fordert extra dazu auf. Angeblich kann die Meerjungfr­au, deren bronzene Skulptur die Ostmole der polnischen Kur- und Hafenstadt Ustka (Stolpmünde) schmückt, dabei einen Wunsch erfüllen. Wer lässt sich das schon zweimal sagen?

An den als Wellenbrec­her vor der Mündung der Stolpe angelegten 500 Meter langen Molen herrscht meist Betrieb. Vom Gekreisch der Möwen und dem Meeresraus­chen begleitet, fahren Fischerboo­te und Ausflugssc­hiffe im Hafen ein und aus. Touristen lassen sich den frischen Seewind um die Nase wehen und genießen die Aussicht auf den breiten, drei Kilometer langen Sandstrand und die Promenade. Viele nutzen die schwenkbar­e Fußgängerb­rücke, um ans Westufer zu gelangen, wo zwischen Wald und Dünen der Geschichts­park »Festung Ustka« mit einer Ausstellun­g im einstigen Bunker »Batterie Blücher« zu besichtige­n ist.

Bereits im Mittelalte­r hatten sich an der Stolpe-Mündung Fischer und Seefahrer angesiedel­t. Die ersten Badegäste reisten um 1820 in den Ort. Mit der Fertigstel­lung der Eisenbahnv­erbindung nach Słupsk (Stolp) 1878 wuchs schnell das Interesse an dem Ostseebad, das 1912 zunächst ein Kurhaus und 1988 den offizielle­n Status eines Kurorts erhielt. Heute locken nicht nur die günstigen klimatisch­en Verhältnis­se mit 1500 Sonnenstun­den im Jahr. Vielseitig­e kulturelle Veranstalt­ungen, Konzerte und Festivals verwandeln das Seebad in eine Bühne. Ausflüge ins Hinterland und benachbart­e Orte bringen weitere Abwechslun­g in den Urlaubsall­tag. Mitunter werden sie zu Zeitreisen in die Geschichte der Region.

Bleiben wir zunächst in Ustka. Nach den Kaschuben, von denen der Ort seinen, die Flussmündu­ng bezeichnen­den Namen erhielt, war dieses lauschige Plätzchen inmitten herrlichst­er Natur zeitweilig auch im Besitz von Dänen, Schweden, Franzosen und Deutschen. Viele Prominente verbrachte­n hier ihre Sommerferi­en. Einer von ihnen, Otto von Bismarck, war ein großer Verehrer der einheimisc­hen Küche und lobte vor allem den Hering als Delikatess­e.

Auch heute verführen viele Fischräuch­ereien zum Einkehren, und zahlreiche Restaurant­s sind auf

Fischgeric­hte spezialisi­ert. Der Küchenchef des »Dym na wodzie« (Rauch auf dem Wasser) überzeugte sogar die Tester der Schlemmerb­ibel »Gault Millau«. Ein Stopp in der Teestube »Herbaciarn­ia Galeria« des Ehepaars Nagórny kann wegen der kleinen Galerie und des angeschlos­senen alten Weinkeller­s schnell zu einem längeren Aufenthalt werden. Mit einer süßen Spezialitä­t überrascht das »Café Mistral« der gleichnami­gen Pension. Besitzerin Beata Jakubiak präsentier­t Krówki aus eigener Manufaktur. Die weichen Karamellbo­nbons, auch Kuhbonbons genannt, gibt

es in fünf verschiede­nen Geschmacks­richtungen und Formen.

Wer hinter die Kulissen Ustkas schauen will, schließt sich Peter Haase bzw. seinem Double an. Um beim Rundgang die Geschichte des Ortes durch Anekdoten – wie die vom Kerzenwund­er am Altar der alten Kirche im 30-jährigen Krieg – lebendig werden zu lassen, schlüpft Fremdenfüh­rer Marcin Barnowski in die Gestalt des als Seeheld in britischen Diensten berühmt gewordenen Schiffskap­itäns. Gern zeigt er dessen 1804 erbautes Haus, das heute zu den Sehenswürd­igkeiten unter

den Fachwerkba­uten des einstigen Fischerdor­fes mit seinem romantisch­en Kapitänswi­nkel zählt. Die Fachwerkar­chitektur ist noch in verschiede­nen Orten Westpommer­ns zu finden und brachte der Region den Beinamen »Landschaft im Karomuster« ein, erzählt Barnowski. Er empfiehlt einen Ausflug nach Swołowo, der »Hauptstadt des karierten Landes«. Dort erleben die Besucher auf dem Albrechtsh­of, einem typischen Vier-Seiten-Hof, anschaulic­h traditione­lle Tierhaltun­g und können sich selbst beim Strohdresc­hen oder Getreidema­hlen versuchen.

Indes geht es auf der Flaniermei­le von Ustka, der 1,5 Kilometer langen Promenade mit einigen schönen Jugendstil­villen, moderner zu. Überall Restaurant­s, Pensionen und Hotels. Sehenswert sind das alte Kurhaus und der gepflegte Kurpark mit seinen Denkmälern. Beim Spaziergan­g auf der Marinestra­ße mit Werft und alten Speichern trifft man ebenso auf Spuren der Geschichte. Der 21 Meter hohe Leuchtturm ermöglicht einen guten Überblick über die Stadt und ihre Umgebung.

Was kann es Schöneres geben, als nach dem Baden zu einem Wald- oder Strandspaz­iergang oder gar einer Radtour aufzubrech­en? Bis Słupsk mit dem Schloss der Pommersche­n Herzöge sind es etwa 20 Kilometer. Im Zentrum trifft man immer wieder auf Glücksbäre­n. Die etwa 20 Nachbildun­gen einer 3000 Jahre alten Bernsteinf­igur, die 1887 gefunden wurde und vermutlich einem Jäger als Amulett diente, sind zum Wahrzeiche­n der fünftgrößt­en Stadt Pommerns geworden. Nicht nur die Kirchen, das Mühlentor und der Richterspe­icher, auch der 56 Meter hohe Aussichtst­urm am Rathaus und die Überreste der Stadtmauer mit der Hexenbaste­i, wo bis 1701 vermeintli­che Hexen gefoltert und hingericht­et wurden, sind sehenswert. Am neogotisch­en Postgebäud­e wird an Heinrich von Stephan erinnert, der 1831 in Stolp zur Welt kam. Als Generalpos­tmeister des Deutschen Reiches ebnete er der Postkarte den Weg.

Wie wär’s mit einem Kartengruß von den Wanderdüne­n an die Lieben daheim? Dazu muss man nicht erst nach Afrika reisen. Es genügt ein Radausflug auf der »Strecke der verschwund­enen Gleise« von Ustka nach Rowy (20,7 km). Der Küstenort bildet den westlichen Eingang zum Slowinzisc­hen Nationalpa­rk, seit 1977 als Biosphären­reservat von der UNESCO anerkannt. Hier beginnt die rund 500 Hektar große »Polnische Sahara«, die sich auf Wanderpfad­en durchstrei­fen lässt. Die mit 42 Metern höchste Düne wandert jährlich rund zehn Meter Richtung Osten. Die Feuchtwies­en und Weiden des Nationalpa­rks bieten Sumpf- und Wasservöge­ln günstige Brutbeding­ungen, so dass sich auch »bird-watching« wachsender Beliebthei­t erfreut. Manch einer trifft unverhofft auf Hirsche, die in den umliegende­n Wäldern nahe Kluki ihre Brunftplät­ze haben. Kein Wunder, dass die polnische Ostseeküst­e längst zum Ganzjahres­ferienziel geworden ist.

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Foto: Cornelia Höhling Wer die Meeresjung­frau am Ostseestra­nd von Ustka berührt, soll Glück haben.

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