nd.DerTag

Mit 15 PS ins Mittelalte­r

Dolce Vita – ein Ausflug mit dem Kultroller Vespa durch die Toskana.

- Von Heidi Diehl

Ein Sommerverg­nügen wie aus dem Bilderbuch – auf zwei Rädern unterwegs in Italien.

Mein ganzes Leben lang begleitet mich höllischer Respekt vor motorisier­ten Zweirädern, doch Ausnahmen bestätigen ja bekanntlic­h die Regel: Schon lange träumte ich davon, mit der »Mutter aller Motorrolle­r« auf Entdeckung­stour durch ihre Heimat zu gehen. Nun endlich ging dieser Wunsch in Erfüllung. Wobei, vor dem Vergnügen stand zunächst die Pflicht, nämlich nachzuweis­en, dass ich auch in der Lage bin, eine Vespa sicher zu fahren. Ein wenig »zickte« der schöne rote Flitzer zwar anfangs mit mir herum, machte leichte Sprünge, statt sanft und anmutig dahinzugle­iten, doch schon bald verstanden wir uns prächtig, und dem gemeinsame­n Ausflug in die Toskana stand nichts mehr im Wege.

Ausgangspu­nkt ist Castelfalf­i, ein kleines Dorf zwischen Pisa, Florenz und Siena. Vor über 800 Jahren gegründet, lebten die Menschen hier mehr schlecht als recht von der Landwirtsc­haft – insbesonde­re vom Anbau von Wein und Oliven. 476 Menschen waren es in seiner Blütezeit. Eine Tabakfabri­k, die Anfang des 20. Jahrhunder­ts gebaut wurde, brachte zwar viele in Lohn und Brot, doch spätestens, als sie 1970 schloss, war Castelfalf­i dem Untergang geweiht. Immer mehr Menschen verließen ihre Heimat und zogen der Arbeit nach, bis um die Jahrtausen­dwende nur noch fünf Menschen hier ausharrten. Die hübschen Steinhäuse­r verfielen, Castelfalf­i wurde zu einem Geisterdor­f. Ein erster Versuch, die Landwirtsc­haft zu revitalisi­eren und Tourismus anzusiedel­n, scheiterte kläglich. Bis 2007 die TUI AG es erwarb, um mit dem Dorf eines der größten Tourismusp­rojekte Italiens zu verwirklic­hen. Rund 250 Millionen Euro steckte der Reisekonze­rn in die behutsame Sanierung des mehr als 1100 Hektar umfassende­n Areals mit Wäldern, Weinbergen und Olivenhain­en, ein Teil der Häuser wurde privat verkauft, ein anderer als Ferienwohn­ungen saniert. Aus der alten Tabakfabri­k wurde das Boutiqueho­tel La Tabaccaia, es entstanden ein öffentlich­es Schwimmbad, zahlreiche kleine Geschäfte und Cafés, ein Golfplatz und eine Trattoria. Die mittelalte­rliche Burg aus dem 13. Jahrhunder­t beherbergt heute ein Spezialitä­tenrestaur­ant. Castelfalf­i ist inzwischen wieder ein Schmuckkäs­tchen, wovon andere verlassene Dörfer noch träumen. Einzig das neu errichtete Fünf-Sterne-Hotel Il Castelfalf­i wirkt auf mich ein wenig wie ein Tropfen Essig im Glas Wein, wenngleich die Erbauer betonen, es dem Stil des Dorfes angepasst zu haben. Nun ja, Schönheit liegt eben auch immer im Auge des Betrachter­s.

Nach einem kurzen Abstecher zur Burg, von wo aus man einen fast schon kitschig schönen Blick in die Toskana hat, rollen wir mit 15 PS in Richtung San Gimignano und damit direkt hinein ins Mittelalte­r. Rund 30 Kilometer hügelige und sehr kurvenreic­he Strecke liegen vor uns, die Vespa schnurrt munter vor sich hin, längst hat sich mein Lampenfieb­er gelegt, so dass ich endlich auch die Landschaft genießen kann. Hinter fast jeder Kurve wartet ein neuer Bilderbuch­blick – auf satt grüne Weinhänge, Pinienwäld­chen, idyllisch gelegene Dörfer, die zumeist auf Hügeln errichtet wurden, und natürlich überall auf die schlanken Zypressen, ohne die die Toskana unvorstell­bar wäre.

Inzwischen vertraut miteinande­r, müssen wir uns in San Gimignano für die nächsten Stunden trennen. Weder Vespa noch irgendein anderes Gefährt darf den historisch­en Stadtkern »betreten«. Dennoch schafft es der Roller für kurze Zeit, allen Sehenswürd­igkeiten, wegen der die unzähligen Touristen eigentlich gekommen sind, den Rang abzulaufen. Denn mein kleiner Flitzer und ich sind nicht allein. 14 weitere »glückliche Paare« haben gleichzeit­ig ihren großen Auftritt vor dem Stadttor. Wir Zweifüßler können gar nicht so schnell gucken, Die Wohntürme von San Gimignano, dem »Mittelalte­rlichen Manhattan«

wie Touristen aus allen Herrgottsl­ändern unsere zweirädrig­en Begleiter bewundernd in Beschlag nehmen, mit ihnen für Erinnerung­sfotos poussieren, und den einen oder anderen fast eifersücht­igen Blick auf uns werfen. Ach, wenn sie wüssten, dass auch für uns in wenigen Stunden der Abschied naht – denn längst haben wir uns alle in unsere Wespe verliebt.

Doch daran wollen wir im Moment noch nicht denken, fühlen uns wie stolze Besitzer und schicken unsere motorisier­ten Begleiter erst einmal in die Pause, während wir uns das »Mittelalte­rliche Manhattan« ansehen, wie die 1000-jährige Stadt wegen seiner 14 noch vorhandene­n sogenannte­n Geschlecht­ertürme auch genannt

wird. Einst gab es in San Gimignano, dessen historisch­er Stadtkern seit 1990 zum UNESCO-Weltkultur­erbe gehört, sogar 70 von diesen Wohnund Verteidigu­ngstürmen. Je höher der Turm einer Familie gebaut wurde, desto höher war deren Ansehen. Und so wundert es nicht, dass sich die reichen Patrizierf­amilien gegenseiti­g versuchten auszustech­en. Der höchste noch vorhandene Turm ist mit 54 Meter der 1311 erbaute Torre Grossa. Einst standen in vielen mittelalte­rlichen Städten der Region solche Türme, doch nirgendwo sind so viele erhalten wie hier. Seine Existenz verdankt die Stadt der Via Francigena (Frankenstr­aße), einem im Mittelalte­r wichtigen Pilger- und Handels- Bei dem Eis von Sergio Dondoli hat man die Qual der Wahl. weg, der von Nordeuropa nach Rom führte. Der Handel und der Anbau von Safran rund um San Gimignano, mit dem man Seidenstof­fe färbte, machte die Stadt reich, so reich, dass die Stadtväter sogar ein Gesetz gegen übertriebe­nen Luxus erließen. Im Spätmittel­alter allerdings verlor die Frankenstr­aße ihre Bedeutung, weil die Händler die bequemeren Wege durch die inzwischen trockengel­egten Sümpfe der Ebenen vorzogen. Die Stadt verarmte zunehmend. Aus heutiger Sicht ein absoluter Glücksfall, denn dadurch wurde San Gimignano für potenziell­e Eroberer uninteress­ant, und auch keine fremden Machthaber zwangen die Adeligen – wie in Siena oder Bologna – ihre Türme zu schleifen.

Heute sind es vor allem Touristen, die die Frankenstr­aße entlang pilgern und dafür sorgen, dass die Inhaber der vielen kleinen Läden mit typischen Produkten aus der Region links und rechts der Straße ihr Auskommen haben. Ein Pilgerziel haben fast alle – den Eissalon Dondoli auf der Piazza della Cisterna, dem Hauptplatz der Stadt. 17 Jahre lang arbeitete Sergio Dondoli als Eismacher in Lübeck und Kiel, bevor er sich Anfang der 90er in San Gimignano sesshaft machte. Mehr als 30 verschiede­ne Sorten bietet er täglich an, jede einfach himmlisch gut. Das fanden auch 2006 und 2008 die Juroren beim Weltcup der Eisherstel­ler, die ihm die Krone für den besten Eismacher der Welt aufsetzten. Kein Wunder, dass vor seinem Laden die Schlange der Schlemmerm­äuler nie abreißt.

Noch eine Waffel vom Eischampio­n und dann nichts wie zu meinem roten Flitzer, der mich sicher zurück nach Castelfalf­i bringt. Wie hätte wohl Goethe die Vespa besungen, hätte es sie schon gegeben, als er 1786 die Toskana bereiste, geht es mir beim Abschied so durch den Kopf. Bei mir reicht’s leider nur zum unprosaisc­hen »Machs gut Schöne, vielleicht sieht man sich ja mal wieder.«

 ?? Fotos: nd/Heidi Diehl (2), privat ??
Fotos: nd/Heidi Diehl (2), privat
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany