nd.DerTag

Jüdische Tragödie und lettische Schuld

Auf den Spuren des Holocaust mit dem Riga-Komitee

- Von Annette Schneider-Solis, Riga

Lange erinnerte kaum etwas an die Judenverfo­lgung in der lettischen Hauptstadt. Heute ist dieser Teil der Geschichte wieder sichtbar – auch dank des deutschen Riga-Komitees. Allein wäre er nie nach Riga geflogen. In der lettischen Hauptstadt ermordeten Nazis Heinz Samuels Großeltern und seinen Onkel. »Meine Klassenkam­eraden hatten Großeltern, ich nicht«, erinnert sich der 64Jährige aus Niedersach­sen. Sein Vater hat drei Konzentrat­ionslager überlebt, sprach aber kaum über das Geschehene. Erst viel später begann Heinz Samuel zu recherchie­ren. Dass er nach Riga flog, verdankt er einer Einladung des Oberbürger­meisters von Hannover. Die Stadt ist Mitglied des Riga-Komitees, einer Vereinigun­g von 55 deutschen, österreich­ischen und tschechisc­hen Städten, aus denen 25 000 jüdische Einwohner verschlepp­t und in Riga ermordet wurden. Das Riga-Komitee im Volksbund Deutsche Kriegsgräb­erfürsorge will die Geschichte der Rigaer Juden aufarbeite­n, an die ermordeten deutschen Juden erinnern und hat Orte des Gedenkens geschaffen.

Die Moskauer Vorstadt in Riga ist ein Stadtteil, den man sozialen Brennpunkt nennt. Aus Fenstern beobachten Anwohner die Gruppe auf ihrer Spurensuch­e. Am frühen Morgen des 30. November 1941 marschiert­en hier SS und Hilfspoliz­ei ein, ließen die Menschen antreten, weiß Matthias Ester vom Geschichts­kontor Münster. Es wurde Platz gebraucht für die »Reichsjude­n«, die aus Nazideutsc­hland gen Osten deportiert werden sollten. Der Rigaer Blutsonnta­g, an dem 15 000 lettische Juden aus dem Ghetto Moskauer Vorstadt ermordet wurden, nahm seinen Lauf.

»Margers Vestermani­s war damals 16 Jahre alt«, ergänzt der ehemalige Geschichts­lehrer Winfried Nachtwei, »Er bekam von der SS den Auftrag, mit einem Kinderschl­itten Kinderleic­hen aufzusamme­ln und am jüdischen Friedhof abzulegen.« Der Friedhof wurde später in einen Park der Kommunisti­schen Brigaden umgestalte­t, in dem nichts mehr an seine Vergangenh­eit erinnerte.

Als Winfried Nachtwei zum ersten Mal in Riga war, fand er Familien, die im Park, wo einst Gräber waren, picknickte­n, Hunde, die quasi auf den letzten Ruhestätte­n ihre Geschäfte verrichtet­en – doch keine Gedenkstät­te. Dieser Teil der Geschichte wurde verdrängt. Inzwischen ist der jüdische Friedhof wieder erkennbar. Die zerstörte Synagoge ist ebenso Gedenkstät­te wie der Wald von Bikernieki, wo Zehntausen­de ermordet und in Massengräb­ern verscharrt wurden.

»Ich fing an, mich mit Riga zu beschäftig­en«, erzählt Winfried Nachtwei, »weil Münster die Hauptstadt exillettis­cher Kriegsverb­recher war.« Winfried Nachtwei stieß auf bis dahin in Deutschlan­d wenig bekannte Massendepo­rtationen ins sogenannte Vernichtun­gsgebiet nach Minsk und Riga. »Riga war das Auschwitz der westfälisc­hen Juden«, formuliert er. »Dort begann auch die Massenvern­ichtung der deutschen Juden mit der Erschießun­g von über 1000 Menschen.«

Der Münsterane­r traf Zeitzeugen, erfuhr von der verheerend­en Situation ehemaliger Ghettohäft­linge. »Angehörige der Waffen SS erhielten aus Deutschlan­d Renten, die Opfer gingen leer aus!«, empörte er sich und engagierte sich fortan für die Opfer. Bürgerinit­iativen entstanden, Geld wurde gesammelt, in Riga Gedenkorte eingericht­et – auch dank des Engagement­s des Riga-Komitees.

In der Moskauer Vorstadt erinnert nur wenig an die blutige Vergangenh­eit. Es ist ein Stadtteil im Umbruch. Die Straßen tragen lettische Namen. »Damals«, erzählt Matthias Ester, »hießen die Straßen nach den Herkunftso­rten der Deportatio­nszüge.« Auf einem Bauzaun ist mit einer Schablone der Schriftzug »Bielefelde­r Straße« gesprüht. Das Werk urbaner Aktivisten, junger Leute, die die Erinnerung wach halten wollen.

An einer Kreuzung zeigt Matthias Ester auf ein modernes Haus. Hier habe der Blechplatz gelegen. »Der Blechplatz war Hinrichtun­gsstätte und Selektions­ort, der blutigste Platz im Stadtteil. Hier wurde gemordet und gefoltert.«

Dort begann auch die Aktion Dünamünde. »Bei einem Appell«, fand Winfried Nachtwei heraus, »wurde den Häftlingen gesagt, dass Arbeit in einer Fischfabri­k zu vergeben sei. Es meldeten sich Freiwillig­e, andere wurden bestimmt. 2000 Menschen etwa, vor allem Ältere.« Sie wurden mit Lkw weggefahre­n und nie wieder gesehen. Aufgabe eines anderen Kommandos war es, Kleidungss­tücke zu sortieren. Schließlic­h fanden sie darunter Kleidung von Angehörige­n. »Da wurde Gewissheit: es gab keine Fischfabri­k. Die Menschen sind in Bikernieki erschossen worden.« Unter ihnen wohl auch Heinz Samuels Großeltern. »Ich habe Urkunden, die ihren Tod auf Februar 1942 datieren.« Sein Onkel wurde gehängt, weil er sich warme Kleidung eingetausc­ht hatte, als er bei 40 Grad Minus mit anderen Gefangenen ein Arbeitslag­er errichten und auf freiem Feld kampieren musste.

In Riga starben auch die Großeltern von Ruth Gröne. Die Niedersäch­sin erlebte als Achtjährig­e ,wie sie nach Riga deportiert wurden. »Das war sehr schmerzlic­h. Wir haben zusammen gewohnt, und plötzlich waren sie nicht mehr da. Ich vermisse sie noch heute.« Damals wusste angeblich niemand, wo die vielen Menschen geblieben sind. Ruth Grönes Vater hatte sich für die Verladung der Deportiert­en gemeldet. »Um seinen Eltern zu helfen«, vermutet Ruth Gröne, die von über 1000 Menschen weiß, die aus Hannover deportiert wurden. Nach Riga, wie ihr Vater erfahren hatte. »Ich habe meinen Vater nie weinen sehen. An dem Abend hat er sich aufs Bett geworfen. Er hatte einen Zusammenbr­uch.« Nach dem Krieg wurden die Großeltern für tot erklärt. Bis heute weiß Ruth Gröne nicht, in welchem Haus sie in Riga gewohnt haben.

So wie diese verliert sich auch die Spur von Herbert Goldschmid­t in Riga. »Herbert Goldschmid­t war Bürgermeis­ter in Magdeburg«, erzählt Dieter Steinecke, der sachsen-anhaltisch­e Landesvors­itzende des Volksbunds Deutscher Kriegsgräb­erfürsorge. »Goldschmid­t war Stellvertr­eter von Ernst Reuter. Als beide verhaftet wurden, musste er mit einer SS-Fahne durch die Stadt laufen – eine unglaublic­h demütigend­e Prozedur.« Reuter, der sich noch für seinen Freund und Stellvertr­eter eingesetzt hatte, konnte in die Türkei fliehen. Goldschmid­t wurde 1942 nach Riga deportiert, wo er 1943 starb. Dieses Schicksal veranlasst­e die Stadt Magdeburg, dem Riga-Komitee beizutrete­n.

Der 92-jährige Historiker Margers Vestermani­s hat sich um die Aufarbeitu­ng der Geschichte verdient gemacht und spricht von einer jüdischen Tragödie und einer lettischen Schuld, als er am Lettischen Holocaust Gedenktag ans Mikrofon tritt. Wie konnte die SS in Lettland 30 000 Menschen in nur zwei Monaten ermorden? »Hier hatten die Nazis viele einheimisc­he Helfer«, antwortet Vestermani­s. Er weiß von lettischen, litauische­n und estnischen Bataillone­n, die eine Spur von Tod und Zerstörung hinterließ­en, nicht nur im Baltikum, sondern auch in Belarus. Die Freiwillig­enbataillo­ne unterstütz­ten die SS im Kampf gegen die Partisanen, trieben Menschen in Scheunen, verbrannte­n sie.

Als die Pogrome begannen, wurden Nachbarn erbitterte Feinde, die plünderten und raubten, sich an Massakern beteiligte­n. Gerade in der ersten Nacht der Okkupation erlebte Riga eine regelrecht­e Gewaltorgi­e. »Es gibt schrecklic­he Zeugnisse davon«, erzählt Margers Vestermani­s in fließendem Deutsch der Delegation. »Nahe dem jüdischen Friedhof wurde ein Massengrab gefunden, das typisch ist für wilde Erschießun­gen. Man hat die Leute geholt, manche angezogen, andere in Unterhosen. Viele wurden mit Gewehrkolb­en erschlagen. Wo die SS gewütet hat, gab es keine Dokumente. Hier hatten viele Tote Hochschuld­iplome oder Pässe in den Taschen.«

Woher die Aggression­en kamen? Janis Racins wagt einen Erklärungs­versuch. »Als Lettland 1940 von der Sowjetunio­n okkupiert wurde, haben viele Juden mit den Kommuniste­n kooperiert und gegen Letten gekämpft«, so der einstige lettische Militäratt­aché. »1941 kam die Stunde der Rache für die vielen, die nach Sibirien geschickt worden waren.« Zur Entstehung der Freiwillig­enkommando­s sagt Janis Racins: »Den Leuten wurde gesagt, sie müssten einen Auftrag erfüllen, sonst würden sie erschossen. Aber darüber spricht hier niemand. Es ist traurig, wenn manche versuchen, uns eine Mitschuld zu geben. Nicht die Letten haben das Ghetto organisier­t und den Massenmord begangen. Lettland hat in der Nazizeit ein Drittel seiner Bevölkerun­g verloren.«

Tatsächlic­h gab es auch Letten, die ihre jüdischen Nachbarn schützten. Janis Lipke etwa, ein Hafenarbei­ter, dem gemeinsam mit anderen Helfern direkt neben der niedergebr­annten Synagoge ein Denkmal gesetzt wurde. »Es waren vor allem einfache Leute«, fand Winfried Nachtwei heraus. »Sie haben es nicht ausgehalte­n und geholfen. Es ist bemerkensw­ert, mit welcher Unverfrore­nheit Janis Lipke mit dem Lkw ins Ghetto fuhr, Leute herausholt­e und vor dem Tod rettete.«

Heute gibt es in Riga etliche Gedenkorte, die an die Shoah erinnern. Doch vieles harrt nach wie vor einer Aufarbeitu­ng. Margers Vestermani­s bedauert, dass Namen lettischer Täter kaum bekannt sind. Ausnahmen sind Herberts Cukors und Viktors Arajs. »Geschichte braucht Namen. Man könnte sie massenhaft finden, doch das ist nicht gewollt.«

Vestermani­s ist Mitglied einer Historiker­kommission, doch die Zeit läuft dem 92-jährigen davon. Die jetzige Regierung habe kein Interesse an weiteren Publikatio­nen. Das müsse man wissen, auch wenn der Präsident bei der Kranzniede­rlegung am Holocaust-Gedenktag zugegen war. »Wenn ein Kapo im Ghetto freundlich lächelte, war er ganz bestimmt ein großes Schwein«, wagt er einen Vergleich mit den 1940er Jahren. »Bei der Kranzniede­rlegung haben auch alle gelächelt. Dieses Lächeln ist nicht lebensbedr­ohlich, aber es ist symptomati­sch für die Entwicklun­g in einem postsowjet­ischen Land.«

Als die Pogrome begannen, wurden Nachbarn erbitterte Feinde, die plünderten und raubten, sich an Massakern beteiligte­n. Gerade in der ersten Nacht der Okkupation erlebte Riga eine regelrecht­e Gewaltorgi­e.

 ?? Foto: Annette Schneider-Solis ?? »Bielefelde­r Straße«: Eine fast verblasste Erinnerung an die Straßen im Ghetto, die nach den Herkunftso­rten der Deportiert­en benannt wurden.
Foto: Annette Schneider-Solis »Bielefelde­r Straße«: Eine fast verblasste Erinnerung an die Straßen im Ghetto, die nach den Herkunftso­rten der Deportiert­en benannt wurden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany