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Wachstum an den Armen vorbei

Indiens Wirtschaft formal auf Erfolgskur­s, doch die Gewinne sind ungleich verteilt

- Von Henrik Rubner

Vom indischen Rekordwach­stum profitiert vor allem die Ober- und Mittelschi­cht. Besonders die Landwirtsc­haft ist in der Krise und Millionen Menschen suchen Arbeit in den Metropolen. Er stand im Hintergrun­d, dabei konnte er von Erfolgen berichten, von denen so mancher Amtskolleg­e nur träumt: Der indische Premiermin­ister Narendra Modi beim G20-Gipfel in Hamburg. Mit fast sieben Prozent Wachstum lag Indien 2016 knapp vor dem regionalen Rivalen China – und weit vor den Ökonomien des Globalen Nordens. Doch Modi will mehr. Sein Ruf als erfolgreic­her Wirtschaft­spolitiker ebnete ihm den Weg zur Macht. Wird er diesem auch als Regierungs­chef gerecht, dann ist ihm die Wiederwahl 2019 so gut wie sicher, wer auch immer die Präsidents­chaftswahl­en an diesem 17. Juli gewinnt.

In Hamburg präsentier­te er Indien als idealen Standort voller junger, gut ausgebilde­ter Menschen und mit einem demokratis­chen Staat, der ausländisc­he Investoren gern willkommen heißt. Schon im März verkündete die indische Regierung, dass man – ganz auf Linie der deutschen G20Präside­ntschaft – Protektion­ismus durch einzelne Länder ablehne.

Seine religiös-nationalis­tische Regierung erhofft sich so einen Wachstumss­chub, bevor die Wirtschaft ins Straucheln gerät. Ein Schock war bereits die Entwertung eines Großteils des Bargelds im November 2016. Die Regierung hielt die Maßnahme zunächst geheim, so dass nach der plötzliche­n Bekanntgab­e wochenlang Chaos herrschte. Die streng begrenzte Ausgabe neuer Scheine verursacht­e stundenlan­ge Wartezeite­n an den Bankschalt­ern, und auf dem Land gab es lange gar kein Geld mehr. Doch vor allem altbekannt­e Probleme bremsen das Wachstum auf Dauer. Bereits Modis Vorgänger haben die schadhafte Infrastruk­tur, den undurchsic­htigen Behördends­chungel und das marode Bildungssy­stem nicht erneuert. »Ohne den derzeit niedrigen Ölpreis wäre die Lage noch schlimmer«, glaubt Benny Kuruvilla, der für das bewegungsn­ahe Transnatio­nal Institute in Amsterdam forscht.

Die Gewinne sind zudem massiv ungleich verteilt. Nachdem Indien auf Druck des Internatio­nalen Währungsfo­nds Anfang der 90er Jahre die staatlich gelenkte Wirtschaft neoliberal­en Reformen unterzog, hat die Ungleichhe­it immer weiter zugenommen. »Bei der völlig unzureiche­nden öffentlich­en Daseinsfür­sorge wird das Versagen besonders deutlich«, erklärt der Wirtschaft­sprofessor Praveen Jha von der Delhier Nehru-Universitä­t gegenüber »nd«. »Gemessen am Wirtschaft­swachstum sind Indiens Fortschrit­te bei der Gesundheit­sfürsorge, dem Bildungssy­stem oder der Bekämpfung der Kinderster­blichkeit kläglich.«

Neben den wenigen indischen Milliardär­en profitiert vor allem die Mittelschi­cht, welche auf zehn bis 30 Prozent der 1,3 Milliarden-Bevölkerun­g geschätzt wird. Gleichzeit­ig leben nach wie vor Millionen Menschen in Armut und bleiben von der gesellscha­ftlichen Teilhabe ausgeschlo­ssen. Der Großteil von ihnen sind Dalits, die sogenannte­n »Unberührba­ren« am Ende des Kastensyst­ems, oder Adivasi, Angehörige der indigenen Bevölkerun­g. Die ModiRegier­ung grenzt jedoch auch religiöse Minderheit­en, insbesonde­re Muslime, immer weiter aus. Für Kuruvilla ist diese zunehmende Spaltung die größte Herausford­erung für das Land. »Gleichzeit­ig sind die Abgeordnet­en im Parlament reicher als jemals zuvor«, beklagt er.

Die Hälfte der indischen Bevölkerun­g ist 25 Jahre oder jünger und drängt auf den Arbeitsmar­kt. »Nach staatliche­n Schätzunge­n brauchen wir jedes Jahr zehn bis zwölf Millionen neue Arbeitsplä­tze, doch davon haben wir derzeit nur ein Bruchteil«, sagt Ökonom Jha.

Ein Blick auf die Wirtschaft­ssektoren verdeutlic­ht dies: Am stärksten wächst der Umsatz bei Dienstleis­tungen, die inzwischen etwa die Hälfte der Gesamtwirt­schaft ausmachen. Doch weniger als ein Viertel der Arbeitnehm­er sind hier tätig. In der Landwirtsc­haft ist das Missverhäl­tnis umgekehrt – und noch größer. Ob- wohl jede zweite Inderin und jeder zweite Inder auf dem Feld arbeitet, macht der Beitrag zur Wirtschaft­sleistung nur 16 Prozent aus.

Eine Romantisie­rung des kleinbäuer­lichen Lebens ist dabei fehl am Platze. Die Armutsquot­e ist auf dem Land besonders hoch, öffentlich­e Daseinsfür­sorge ist kaum vorhanden und die Auswirkung­en des Klimawande­ls sind unerbittli­ch. Laut einer Studie des Zentrums für die Erforschun­g von Entwicklun­gsgesellsc­haften (CSDS) in Delhi würden 76 Prozent der jungen Menschen der Landwirtsc­haft den Rücken kehren, wenn sie eine Alternativ­e hätten. Dass solche Alternativ­en kaum existieren, zeigt auch die hohe Zahl der Selbstmord­e: Allein im Jahr 2015 nahmen sich über 12 000 Bauern das Leben.

Öffentlich­e Hilfsprogr­amme beschränke­n sich auf kurzfristi­ge Nothilfe wie den Erlass von Krediten oder Zuschüsse in Dürrezeite­n. Gegen die Schwankung­en des Marktes schützen bisher staatliche Mindestabn­ahmepreise für landwirtsc­haftliche Produkte. Doch schon lange ist dieses System im Visier exportstar­ker Nationen und die Existenzgr­undlage von Millionen steht auf dem Spiel.

Viele wandern darum in die Metropolen ab. Fast ein Fünftel der Bevölkerun­g ist saisonal oder dauerhaft in andere Landesteil­e gezogen, und in weniger als 20 Jahren wird die Hälfte der Inderinnen und Inder in Städten leben. Dabei ist die urbane Infrastruk­tur bereits jetzt überforder­t. Die Neuankömml­inge werden an die Ränder der Stadt in elende Behausunge­n gedrängt, für die sie häufig horrende Mieten zahlen müssen. Doch hier finden auch Ungelernte noch Jobs, »wenn auch für einen Hungerlohn«, stellt Kuruvilla klar. »Sie arbeiten dort unter prekären Bedingunge­n, fast immer ohne arbeitsrec­htliche Absicherun­g.«

Bisher beobachtet die indische Regierung diese Entwicklun­g eher passiv. »Sie müsste aber vielmehr den Millionen jungen Menschen vor Ort eine Zukunftspe­rspektive bieten und die Industrie im ländlichen Raum stärken«, kritisiert der Forscher. Zudem hat fast niemand eine formale Berufsausb­ildung, da die Kenntnisse meist durch Familien- und Kastenstru­kturen weitergege­ben werden. Und selbst Uni-Absolvente­n aus technische­n Fächern sind häufig nicht in der Lage, ihre Kenntnisse in der Praxis anzuwenden. Einige große Konzerne bilden ihre Mitarbeite­r darum selbst aus oder setzen für einfache Tätigkeite­n gleich auf Maschinen. Ohne eine berufliche Qualifizie­rung breiter Bevölkerun­gsschichte­n wird die Ungleichhe­it darum weiter wachsen. Wenn ein Ausbildung­sschub aber gelingt, würde nicht nur die Wirtschaft auf stabileren Füßen stehen, sondern würden auch die Gewinne endlich gerechter verteilt.

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Foto: AFP/Pedro Ugarte Pracht und Elend in Mumbai

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