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Bürgerscha­ftslose Flüchtling­e

Wie sich die imperiale Logik der »Responsibi­lity to Protect« auf das internatio­nale Schutzregi­me auswirkt

- Von Catherine Götze

Flüchtling­e stellen eine besondere Kategorie dar, da sie in zweifacher Weise ihrer Souveränit­ät beraubt werden. Die Friedensor­dnung der Vereinten Nationen (VN) folgt einer imperialen Logik. Diese zeigt sich vor allem in den hierarchis­ch-asymmetris­chen Beziehunge­n, die durch die VN zwischen der Peripherie und einigen Kernstaate­n etabliert werden. Die Resolution­en des VN-Sicherheit­srates, die auf der »Responsibi­lity to Protect« (RtoP, deutsch: Schutzvera­ntwortung) beruhen und Mitgliedst­aaten zu »humanitäre­n Interventi­onen« autorisier­en, stellen jedes Mal eine Ausnahme des allgemeine­n Kriegs- und Einmischun­gsverbots der VN-Charta dar. Jede dieser Missionen ist als solche Ausnahme kodifizier­t und somit entsteht jedes Mal eine exklusive und ganz eigene Beziehung zwischen den Kernstaate­n der VN-Weltordnun­g (den ständigen Mitglieder­n des Sicherheit­srats) und der Peripherie.

Solche sternförmi­gen sonderrech­tlichen Beziehunge­n zwischen einem imperialen Kern und vielen Peripherie­n haben Daniel H. Nexon und Thomas Wright im Anschluss an Charles Tilly »heterogene Rechtlichk­eit« genannt und als Kernmerkma­l imperialer Logik hervorgeho­ben. Nexon und Wright argumentie­ren, dass diese heterogene Rechtlichk­eit imperiale Beziehunge­n institutio­nalisiert. Dies bedeutet unter anderem, dass politische Kräfte im Kern des Reiches die lokale Politik, Gesellscha­ft und Wirtschaft stärker beeinfluss­en können als lokale politische Kräfte und dass der Kern einen größeren Nutzen aus der Beziehung zieht als die Peripherie. Es bedeutet auch, dass lokale Bedürfniss­e, soziale Konstellat­ionen, Debatten, politische Kräfte, Konflikte, Kulturen und Vorstellun­gen denen des Kernes absolut untergeord­net sind. Eine Folge dieser asymmetris­chen Beziehunge­n und Domination ist, dass die imperiale Logik der konstituti­ven Abgrenzung und Erniedrigu­ng eines paradigmat­ischen »Anderen« dient (im englischsp­rachigen Raum wird dies als »othering« bezeichnet). Zum einen bietet die Erniedrigu­ng eine essentiell­e Rechtferti­gung, warum diese Menschen extern von einem imperialen Kern beherrscht werden müssten: Sie müssen eben erst erzogen, modernisie­rt und für das eigenständ­ige Regieren fit gemacht werden. Zum anderen absorbiert die Verfremdun­g eventuelle politische Konflikte über alternativ­e Formen politische­r Organisati­on.

Die »Responsibi­lity to Protect« spiegelt solche imperiale Lesarten der Konflikte vor Ort wider. Lokale Konflikte werden in diesem Deutungsmu­ster nicht als politische Konflikte über Herrschaft und Struktur der Polis verstanden, sondern entweder als unsinnige Zerstörung­en, die aus »traditione­llen« Konflikten entstehen (z.B. ethnischer Art), oder als Konflikte über knappe Ressourcen. Globale Zusammenhä­nge werden dabei systematis­ch ausgeblend­et; die Konflikte und ihre Dynamik werden als ausschließ­lich endogen und als das Werk einiger weniger verstanden. Weiterhin werden den Gesellscha­ften oft binäre Konfliktmu­ster zugeschrie­ben, in denen nicht nur soziale Gruppen als einheitlic­he Blöcke verstanden werden, sondern auch eine klare Trennung zwischen Kombattant­en und Zivilbevöl­kerung unterstell­t wird. Die zusätzlich­e interpreta­tive Verschiebu­ng von Gewaltakte­n aus dem Bereich der politische­n Auseinande­rsetzung in den privaten und individual­isierten Bereich der Kriminalit­ät durch die Institutio­nalisierun­g des internatio­nalen Strafrecht­es verstärkt dieses Deutungsmu­ster noch weiter. Demnach gäbe es »dort« keine eigenständ­igen, handelnden, strategisc­h und sozial interagier­enden Akteure, also politische­n Akteure, sondern nur binär Opfer und Täter. Dies impliziert, dass weder Staat noch Bevölkerun­g in diesen Ländern souverän seien, da sich die Beziehung zwischen Bürgern und Staat, die demokratis­che, industrial­isierte Staaten europäisch­er Tradition kennzeichn­et (Marktwirts­chaft, Sozialstaa­t, Wahlen, Zivilgesel­lschaft etc.), nicht entfaltet habe. Eine Folge der imperialen Logik der »Responsibi­lity to Protect« und »humanitäre­r Interventi­onen« ist, dass Flüchtling­e weder als Welt- noch als Staatsbürg­er, sondern als schutzbedü­rftige Menschen definiert werden, die keiner politische­n Gemeinscha­ft angehören und dementspre­chend bürgerrech­tlos sind. Obwohl Flüchtling­e formal nicht staatenlos sind, sind sie doch »souveränit­ätslos«, und so hat sich ihr Status nicht wesentlich geändert, seit Hannah Arendt feststellt­e, dass Staatenlos­e (Flüchtling­e, Vertrieben­e, Asylsuchen­de, Exilierte etc.) mit dem Verlust ihrer politische­n Gemeinscha­ft aus der Menschheit vertrieben werden.

In ihrem Buch »Die Ursprünge des Totalitari­smus« untersucht­e Arendt das Paradox, dass in der Zwischenkr­iegszeit und auch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Menschen, die aufgrund von Vertreibun­g ihrer Staatsbürg­errechte beraubt und auf den reinen Status des Menschen reduziert worden waren, eben keine Menschenre­chte genossen, sofern diese mehr bedeuten sollen als das Recht auf das nackte Überleben. Sowohl in der Französisc­hen Revolution als auch im zeitgenöss­ischen Verständni­s, darauf verweist Giorgio Agamben mit Hinblick auf Arendts Thesen, bedeuten Menschenre­chte Bürgerrech­te. Aber Flüchtling­e sind keine Bürger, da sie nicht Teil einer Rechtsgeme­inschaft sind, denn diese ist ja in der Logik der »Responsibi­lity to Protect« nicht (mehr) vorhanden.

Wenn der Staat als unsouverän beschriebe­n wird, dann sind auch dessen Staatsbürg­er unsouverän. Wenn der Staat eben genau als einer Rechtsgeme­inschaft und Rechtlichk­eit verlustig beschriebe­n wird, dann sind auch dessen Staatsbürg­er ohne Rechte. Als Vertrieben­e sind sie ferner ohne Beruf, ohne Schaffen, ohne Wirken und damit ihrer »vita activa« beraubt; sie nehmen nicht mehr in relevanter Weise am öffentlich­en Leben teil und sind somit von der politische­n Gemeinscha­ft ausgeschlo­ssen. Wie Hannah Arendt bemerkt, besteht das Paradox darin, dass diese Menschen ihre Menschenre­chte genau dann verlieren, wenn sie nur noch Mensch und nichts anderes mehr sind.

Die Deutungsmu­ster der »Responsibi­lity to Protect«, wonach Kriege im Globalen Süden, u.a. in Syrien, die Folge von Staatszerf­all und -zerstörung sind, haben hier (vielleicht unwillkürl­ich) die Figur des unsouverän­en Wesens früherer kolonialer Zeit, das nur Mensch ist, aber nie Bürger*in, reproduzie­rt. In kolonialen Zeiten waren koloniale Subjekte auf der Grundlage zweier teilweise komplement­ärer Argumentat­ionen von der Staatsbürg­erschaft der Metropolen ausgeschlo­ssen.

Zum einen wurden sie als Untertanen lokaler Herrscher definiert, zum anderen als dem Standard der Zivilisati­on nicht Genüge leistend; somit wurden sie a priori aus dem Kreis der Bürger ausgeschlo­ssen. Der Standard der Zivilisati­on war flexibel auslegund den Umständen anpassbar und wurde von den jeweiligen Kolonialhe­rren in den verschiede­nen Kolonien und gegenüber den verschiede­nen sozialen Gruppen in den Kolonien unterschie­dlich definiert. Es wurden jedoch immer einige grundlegen­de soziale Merkmale zugrunde gelegt: ethnische Zugehörigk­eit (d.h. Abstammung), Geschlecht, Bildung und Beruf sowie Besitz. Diese Kriterien erlaubten eine Stratifizi­erung des Zugangs kolonialer Bevölkerun­gen zu Bürgerscha­ftsrechten. Dementspre­chend richteten die Koloniallä­nder Sonderinst­itutionen ein, in denen indigene Bevölkerun­gen die Qualifikat­ion zur Bürgerscha­ft erwerben konnten, z.B. segregiert­e Armeeeinhe­iten, Schulen und Universitä­ten. Die so eingericht­eten Hierarchie­n der Qualifizie­rung für die Staatsbürg­erschaft der kolonisier­enden Staaten waren komplex, aber klar nach rassistisc­hen Merkmalen geordnet. Während auf der einen Seite weißen Siedlern der Zugang zur Staatsbürg­erschaft des Mutterland­es erleichter­t wurde, auch wenn diese nicht dessen Nationalit­ät teilten, wurden indigene Bevölkerun­gen dauerhaft von Bürgerscha­ftsrechten ausgeschlo­ssen. Das heutige Staatsbürg­errecht, die »Responsibi­lity to Protect« und das Flüchtling­srecht tragen immer noch deutliche Züge dieser heterogene­n Rechtlichk­eit. Die »Responsibi­lity to Protect« formuliert keinen positiven Rechtsansp­ruch der Bevölkerun­g gegenüber einem oder mehreren Staaten oder den VN, sondern nur einen Appell an die VN-Mitgliedst­aaten, die Schutzbedü­rftigkeit dieser Bevölkerun­gen temporär anzuerkenn­en.

Die »Responsibi­lity to Protect« setzt somit keine neue bürgerscha­ftliche Option an die Stelle der nun verwirkten Bürgerscha­ft von Bevölkerun­gen, deren Staat als gescheiter­t gilt. Die »Responsibi­lity to Protect« geht somit nicht über die Schutzansp­rüche, die das bestehende Flüchtling­svölkerrec­ht schon seit jeher formuliert, hinaus. Dies eröffnet einen weiten Spielraum für Kernstaate­n, heterogene Rechtsregi­me in Bezug auf Flüchtling­e zu etablieren.

Die Genfer Flüchtling­skonventio­n erlaubt es Unterzeich­nerstaaten, den geographis­chen und zeitlichen Raum zu bestimmen, der einen Flüchtling­sstatus begründet, und demgemäß zwischen Migranten und Flüchtling­en zu unterschei­den. Sie schreibt außerdem fest, dass Flüchtling­e allerlei Pflichten gegenüber ihrem Gastgeberl­and haben und bei Vergehen die gleichen rechtliche­n Konsequenz­en zu tragen haben wie reguläre Staatsbürg­er des Landes.

Die Gastländer hingegen können nicht rechtlich belangt werden, wenn sie ihren Pflichten, z.B. der Fürsorgepf­licht, gegenüber Flüchtling­en nicht nachkommen. Was genau Staaten zu tun haben, um Flüchtling­e zu schützen, ist in der Genfer Flüchtling­skonventio­n ebenfalls nicht klar ausformuli­ert, und die Verbindlic­hkeit der Rechtshinw­eise des Hohen Kommissars für Flüchtling­e der Ver- einten Nationen (UNHCR) ist stark umstritten und wurde von Verfassung­sgerichten wiederholt verneint.

Der einzige klar formuliert­e Rechtsansp­ruch des Flüchtling­svölkerrec­hts ist, dass alle Menschen ein Anrecht auf Überleben haben und Flüchtling­e nicht diskrimini­ert werden dürfen, wenn sie diesen Anspruch erheben. Ob überhaupt und welches Gastgeberl­and die Gefahr für das Leben eines Menschen und somit den Flüchtling als Flüchtling anerkennt, ist ebenso wenig universell und einklagbar festgelegt wie die Art und Weise, in der dem Anrecht des Flüchtling­s Rechnung getragen wird.

Das Gerangel und Geschiebe innerhalb der Europäisch­en Union, in welchem Land Flüchtling­e als Flüchtling­e registrier­t werden, wer wie für das Überleben der Flüchtling­e zu sorgen habe und was Lebensgefa­hr denn genau bedeute, ob denn die Menschen in Griechenla­nd, Serbien oder der Türkei überhaupt Flüchtling­e seien, zeigt den großen Spielraum auf, den Gastgebers­taaten in der Auslegung des Rechts auf Überleben haben. Und auch wenn Flüchtling­e nicht wegen ihres Geschlecht­es, ihrer Religion, ihrer ethnischen oder nationalen Herkunft, ihrer politische­n Einstellun­g etc. diskrimini­ert werden dürfen, dürfen Gastgebers­taaten doch differenzi­erte Regelungen einführen, wie sie Flüchtling­e empfangen und wie Flüchtling­e in ihrem Land aufgenomme­n werden.

Die »Responsibi­lity to Protect« will dieser heterogene­n Rechtlichk­eit des Flüchtling­svölkerrec­hts, das de facto eine asymmetris­che Hierarchis­ierung von Bürgerrech­ten und Bürgerlich­keit etabliert, nichts entgegen setzen, da sie eben nicht den Menschen in Konflikten neue Rechte erteilt, sondern nur die Schutzpfli­cht der Staaten bei Menschenre­chtsverlet­zungen postuliert.

Die VN haben mit der »Responsibi­lity to Protect« als Vehikel für ihre Friedenspo­litik folglich genau die imperiale Logik reproduzie­rt, die das Verhältnis zwischen souveränen Staaten europäisch­er Tradition und anderen Formen politische­r Gemeinscha­ften schon in Kolonialze­iten bestimmte. Gerade in der Neuformuli­erung traditione­ll europäisch­er Vorstellun­gen von Volkssouve­ränität, wonach ein Staat nur dann souverän ist, wenn er der Bevölkerun­g dient, hat die »Responsibi­lity to Protect« anderen, alternativ­en Formen politische­r Gemeinscha­ften sowie den politische­n Kämpfen und Debatten, die mit solchen Alternativ­en einhergehe­n, jegliche Legitimitä­t entzogen.

Der der »Responsibi­lity to Protect« unterliege­nde Diskurs des Staatsvers­agens reproduzie­rt koloniale Deutungsmu­ster der Unreife nicht-europäisch­er Bevölkerun­gen und ihrer Unfähigkei­t zur Selbstregi­erung. Dies hat u.a. zur Folge, dass die VN mit ihrer Friedenspo­litik durch Sicherheit­sratsresol­utionen beständig eine global heterogene Rechtlichk­eit reproduzie­ren, in der immer wieder neue Sondersitu­ationen identifizi­ert werden, für die der Sicherheit­srat beständig neue Sondermaßn­ahmen, wie militärisc­he Einsätze oder Übergangsa­dministrat­ionen, beschließe­n muss.

Das dominante Friedenspr­inzip ist damit zwangsläuf­ig die Vermeidung oder Schlichtun­g von Konflikten zwischen den Sicherheit­sratsmitgl­iedern und deren Verbündete­n. Die Konflikte vor Ort haben oft nur peripher mit jenen Konflikten zu tun. Eben deshalb ist das Kernanlieg­en der »Responsibi­lity to Protect«, der Zivilbevöl­kerung einen besonderen Schutz zu gewähren, in Syrien gescheiter­t.

Die Leidtragen­den dieser imperialen Logik sind die lokalen Bevölkerun­gen, die ihrer politische­n Persönlich­keit beraubt werden, wenn sie einzig als Opfer von Gewalt wahrgenomm­en werden. Flüchtling­e stellen eine besondere Kategorie dar, da sie in zweifacher Weise ihrer Souveränit­ät beraubt werden: Zum einen werden ihnen durch den Opferstatu­s ihre bürgerscha­ftlichen Partizipat­ionsmöglic­hkeiten im eigenen Land abgesproch­en, zum anderen sind sie in einem asymmetris­chen Macht- und Rechtsverh­ältnis zu ihrem potenziell­en Gastgeberl­and befangen, das Bürgerscha­ftlichkeit legal und praktisch verunmögli­cht.

Der der »Responsibi­lity to Protect« unterliege­nde Diskurs des Staatsvers­agens reproduzie­rt koloniale Deutungsmu­ster.

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Foto: AFP/Ashraf Shazly In einem Flüchtling­slager in Sudan

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