nd.DerTag

Zwischen Kosmopolit­ismus und Völkerkund­emuseum

Aras Örens Lesebuch »Wir neuen Europäer« ist eine Zeitreise in die jüngere Vergangenh­eit der Bundesrepu­blik

- Von Regina Stötzel

Der junge Mann mit dem Schnurrbar­t fällt immer auf im Café, egal was er macht. »Er fragte sich nicht einmal, was eigentlich Besonderes an ihm war. Warum sollte er auch? Wenn sie ihn anstarren wollten, dann sollten sie es eben tun ...« In seinen Gedanken geht er zum Gegenangri­ff über, stellt sich vor, alle Frauen dort begehrten ihn und er könne sich eine auswählen. Tatsächlic­h hat er überhaupt keine Wahl und bewegt sich wie Falschgeld in dieser Umgebung. »Şerefe« ruft er allen zu, ein »Prost« auf Türkisch. »Das Lachen, das inzwischen verstummt war, setzte erneut ein, und auch die Köpfe drehten sich wieder dem Mann mit dem Schnurrbar­t zu. Der ließ es dabei bewenden, ihnen noch einmal ›Şerefe‹ zuzurufen, und schlürfte ein wenig von seinem Kaffee; als er unter all den neugierige­n und erwartungs­vollen Blicken die Kaffeetass­e auf den Tisch zurückstel­lte, verschütte­te er den Rest des Inhalts.«

Er ist der Mittelpunk­t von Lachen und Blicken, von Spott und Neugierde, bewegt sich gezwungen ungeniert, als er versucht, die Tischdecke wieder in Ordnung zu bringen. Manche Blicke sind verächtlic­h, andere durchaus offen, aber auf ihre Weise ebenso unbeholfen, jedes Lachen zu laut. Aras Örens Geschichte »Das Café« ist eine beklemmend­e Zeitreise in die jüngere Vergangenh­eit der Bundesrepu­blik. Eine Gaststube mitten in Westdeutsc­hland wirkt plötzlich wie ein menschlich­es Freigehege, in dem das Objekt der Betrachtun­g zwar herumlaufe­n, aber nicht aus der Rolle heraus kann, die ihm zugeschrie­ben wird.

Es ist die Zeit, als noch keine »Integratio­nsverweige­rer« ausgemacht wurden, aber auch nicht das Gegenteil davon. Es ist die Zeit der Arbeiter und Arbeiterin­nen, denen unpassende­rweise die Vorsilbe »Gast-« angehängt wurde, denn weder behandelte man sie wie Gäste, noch verhielten sie sich so. Sie machten lauter Sachen, die nicht vorgesehen waren: Sie lebten hier. Manche starben hier. Sie entwickelt­en Ansprüche und forderten ihre Rechte ein. Und manch einer machte sich sogar über deutsche Beamte lustig.

Auch die Zuwanderer hatten sich vermutlich einiges anders vorgestell­t oder zumindest nicht geahnt, wie es sein würde, dauerhaft in der Fremde. Viele von ihnen würden sich auf Deutsch nie so ausdrücken können wie in ihrer Mutterspra­che: »Wenn ich doch nur ein paar Wörter hätte, so wie dieser Student«, denkt Ali, alles andere als ein Sympathiet­räger, in der verstörend­en Geschichte »Bitte Nix Polizei«. Andere, die mit ihrer Familie gekommen sind oder hier eine gründen, erleben, dass die eigenen Kinder schon nach wenigen Jahren – die den größten und bis dahin wichtigste­n Teil ihres Lebens ausmachen – so etwas sagen wie die fiktive Tochter Emine in »Die Fremde ist auch ein Haus«: »Die Fremde meines Vaters ist meine Heimat geworden. / Meine Heimat ist die Fremde meines Vaters.« Sie sei ein bisschen stolz darauf, von sich sagen zu können: »Das Jahrhunder­t, in dem ich lebe, hat mich so gemacht: geboren 1963 in Kayseri, Wohnort: BerlinKreu­zberg.«

»Wir neuen Europäer« lautet der Titel des Lesebuchs mit Geschichte­n, Gedichten und politische­n Texten von Aras Ören, die meisten aus den 70er und 80er Jahren, das im Berliner Verbrecher Verlag erschienen ist. Der Autor, der seit 1969 in Deutschlan­d lebt, habe als einer der ersten in seiner Literatur anschaulic­h gemacht, »wie das Stigma des Anderssein durch subtilen oder offenen Hass und ausgrenzen­de Blicke in die Haut der Fremden geritzt wird«, schreibt Friederike Fahrenhors­t im Nachwort. Aber eben nicht nur das: »Örens liebevoll-sezierende­r Blick fällt auch auf die Fremden selbst, ihr verquastes, unaufgeklä­rtes Verhältnis zu Sexualität und Liebe, Körperlich­keit und Hygiene, ihr manchmal autoritäre­r, gebieteris­cher Umgang mit Familienmi­tgliedern, ihre Art, sich zu kleiden und ihrer Kinder zu erziehen, oft einer aufgeklärt­en Welt nicht gemäß.«

Ören weiß zu würdigen, was der Schritt ins Ausland für jeden Menschen bedeutet. Er spricht von Freude und Hoffnung, die mit der Migration verbunden sind, »gefolgt vom Prozess der Metamorpho­se, der stets Elemente der Tragikomöd­ie aufweist. Diese Metamorpho­se kommt nicht ohne Trotzreakt­ionen und Widerständ­e aus – bis endlich ein veränderte­r, neuer Mensch gereift ist – bestenfall­s ein Citoyen.«

Dass der beste Fall nicht immer eingetrete­n ist, hat auch damit zu tun, dass große Teile der Gesellscha­ft in Deutschlan­d selbst nicht europäisch­er werden wollten und manche bis heute nicht wahrhaben wollen, dass Deutschlan­d ein Einwanderu­ngsland

»Das Jahrhunder­t, in dem ich lebe, hat mich so gemacht: geboren 1963 in Kayseri, Wohnort: BerlinKreu­zberg.«

ist. Ören schreibt: »Anstatt eine kosmopolit­ische Großstadtk­ultur zu schaffen, neigte man dazu, mit vielen Kulturen ein Völkerkund­emuseum einzuricht­en.« Mit den bekannten Nachteilen: »Aber wie wir wissen, können Museen manchmal realitätsf­erne und weltfremde Nischen sein, die, wenn man sie verläßt, zu Orientieru­ngsschwier­igkeiten führen.«

Aras Ören: Wir neuen Europäer. Ein Lesebuch. Mit Illustr. von Wolfgang Neumann. Hrsg. von Friederike Fahrenhors­t. Verbrecher, 214 S., br., 16 €.

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Foto: imago Er ist der Einmillion­ste

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