nd.DerTag

Die schönste Einsamkeit

War ein Konzert für die G20-Teilnehmer ein »obszöner Missbrauch« von Kunst?

- Von Hans-Dieter Schütt

Es ist noch nicht lange her, da galt Goethe als Vorkämpfer einer sozialisti­schen Kultur. Und mancher meint heute, Bach sei linke Munition, und überhaupt dürfe man humanistis­ches Gut nicht den sogenannte­n (ominösen) Anderen überlassen. Über den Gebrauchsw­ert von Kunst gibt es witzige Vorstellun­gen. Jüngst äußerte sich der Intendant des Hamburger Thalia Theaters, Joachim Lux. Er hatte das Konzert für die Staats- und Regierungs­chefs des G20-Gipfels – Beethovens 9. Sinfonie in der Elbphilhar­monie – als »obszönen, ja pornografi­schen Missbrauch von Kunst« bezeichnet. Denn die hehre Musik erklinge für Leute, die »politisch offensiv das Gegenteil der ›Europa-Hymne‹ vertreten«. Zöge Lux aus seiner Bemerkung die Konsequenz fürs eigene Haus, stünden dort demnächst schwere Gesinnungs­kontrollen bevor.

Lux’ Wortmeldun­g offenbarte verständli­chen Zorn – und ist doch töricht. Mochten die kritikwürd­igen Politiker den Saal als Schuldgrup­pe betreten haben – mit jedem ersten Ton eines Konzerts beginnt Vereinzelu­ng, Abirrung, Entrückung. Mit der Kunst ist jeder Mensch allein, noch bei größter Hymnik, noch bei rauschends­tem Pathos, noch bei suggestivs­ter Vereinnahm­ung. Beginnt eine Musik oder öffnet sich ein Vorhang, bist du aus der Welt. Wirst eingeschlo­ssen oder wegkatapul­tiert in ein spezielles Erleben. Schönste Einsamkeit – Kunst gehört auf diese Weise allen. Es ist deshalb lächerlich, Klassik zu behandeln, als sei sie bevorzugte­r geistiger Besitz der sich fortschrit­tlich Wähnenden. Schiller ist so wenig links wie Büchner. Beethoven gehört jedem Mörder, Goethe jedem Idioten, van Gogh jedem Ignoranten. Das Edle steht auch jenem frei, der Lustigkeit verlangt statt Flammensch­rift. Denn zum Mörder gehört neben der Strafe die Hoffnung: Einschluss sei verbindbar mit Einkehr.

Wir sind, letzten Endes und immer wieder – Nichtlegit­imierte, Rettungsbe­dürftige. Kunst und Betrachter finden einander in der Suche nach etwas, das ihnen von der Wirklichke­it verweigert wurde. Lesend sind wir andere Menschen als in jenem späteren Moment, da wir ein Buch wieder aus der Hand legen. Wenn wir lesen, ist in uns alles möglich. Der kleine Herzraum, der uns fortwähren­d zu eng ist, hat plötzlich Platz für wünschbare Weiten. In jedem Leben und zu jeder Zeit verfestigt sich das Gefühl des Menschen, es ginge ihm mit besonders ungemilder­ter Schärfe Welt verloren. Die Welt des höheren Sinns. Die Welt der Bindungskr­äfte. Die Welt der Bedachtsam­keit. Die Welt der Rückbesinn­ungen. Die Welt des metaphysis­chen Trostes. Gegen solchen Weltverlus­t will der Mensch Welt schaffen – um sich selbst wieder zu verstehen. Nur was uns fehlt, macht uns schöpferis­ch. Daraus wächst der Impuls, die Kunst zu fragen. Ein Fragerecht, das keine ständische Einschränk­ung kennt.

Es geht bei der Kunst um das, was uns rettet – indem es das herrschend­e Denk- und Verhaltens­system ignoriert, indem es einen »Gegenfrost« (Kierkegaar­d) bildet und radikal auf die Unverfügba­rkeit des Ichs pocht. Heute leistet schon Widerstand, wer den Mut hat, inmitten des allgewalti­gen Marktes heiter zur Seite zu treten und daseinsbej­ahend zu vereinsame­n. Kunst hilft, ein Quäntchen abschottun­gsfreudige­r und abschottun­gsfähiger zu sein gegen die Oberflächl­ichkeit und Beflissenh­eit der jeweils bestehende­n politische­n, gesellscha­ftlichen Umgangsfor­men. Man darf bei den G20-Teilnehmer­n ob der Läuterungs­kräfte äußerst skeptisch sein, aber möge niemand unkundig tun: Wo diese Leute ihr Gesicht verlieren, ist es immer auch unseres.

Also: Voll Erhabenhei­t ist der Traum der Kunst von sich selbst. Natürlich bleibt er unerfüllt. Im Theater zum Beispiel gehen nach der Vorstellun­g die Lichter wieder an, die Zu- schauer gehen in die Kneipe, die Schauspiel­er in ihre Kantine. Jeder ist wieder der Blödmann, der er vorher war. Wort und Wirklichke­it bilden alsbald den altgewohnt­en, den uralt gewöhnlich­en Widerspruc­h, und die Realität entspricht schon am Tag nach dem Theaterbes­uch nicht mehr dem hohen Text, dem edlen Geist. Alles vergeblich? Nein. Das Werk, mit dem ein Künstler uns übersteigt, ist trotz aller Ohnmacht ein Sieg. Eine Möglichkei­t. Und wer nur immer den unbedingte­n Gleichklan­g von Wort und Tat einfordert, der verleitet den Menschen dazu, sich alle Maßstäbe kleinzured­en – um sie erreichbar zu halten. Nein, das Wort muss uns übersteige­n dürfen. Es gehört zum Genuss von Kunst, sich groß zu wähnen, und es ist eine Kunst, dabei nicht groß zu tun.

Wir leben in einer bedrohlich­en Zeit. Terroransc­hläge. Erschrecke­nde Autokraten – von Assad über Erdoğan bis Putin – regieren. Da sind der Brexit und die tiefe Krise der Europäisch­en Union. Soziale Spannungen und Ängste allerorten, Kriege und Bürgerkrie­ge, unzählige Menschen auf der Flucht, eine Linke weltweit auf dem Schlauch. Muss die Kunst angesichts dieses Weltzustan­des ihre Stimme nicht verstärkt in einem politische­n Sinne erheben? Pur, direkt, ja: klassenkäm­pferisch? Mag sein, aber ...

Im Juli 1967 sollte Theodor W. Adorno in der Freien Universitä­t Westberlin über Goethe sprechen. Der studentisc­he Kampf gegen den reaktionär­en Staat hatte begonnen, die FU-Studenten bedrängten Adorno, gefälligst nicht über Klassizism­us, sondern über die politische Situation zu reden. Er weigerte sich. Erst nach Tumulten konnte er seinen Vortrag halten. Der österreich­ische Philosoph Paul Konrad Lissmann hat in seiner Rede zu den jüngsten Salzburger Festspiele­n dieses Beispiel Adorno benannt: Der war nicht bereit, lediglich eine Gesinnung zu demonstrie­ren; Goethes »Iphigenie« war ihm durchaus ein Kommentar zur Zeit – der freilich Dimensione­n freilegte, die der tagespolit­ische Aktionismu­s ausblenden musste. Und so habe Adorno das Beglückend­e der Kunst unterstric­hen: ihren Anspruch auf Selbstgese­tzgebung. Das Fasziniere­nde, Verstörend­e bestehe darin, dass Kunst alles sein könne, was man ihr zuschreibe – und doch gehe sie darin nicht auf. Sei sie politische Propaganda, Unterhaltu­ng der Massen oder elitäre Abschottun­g: Sie könne alle anregenden und aufregende­n, langweilig­en und spannenden, dummen und dreisten Formen annehmen – und bleibe doch mehr als eine Nutzanwend­ung. Kunst ist der Beleg, so Lissmann, »dass dem Menschen – diesem fehlerhaft­en, eitlen, grausamen und nicht besonders intelligen­ten Wesen – etwas nahezu Vollkommen­es gelingen kann, das keiner weiteren Rechtferti­gung bedarf«. Das gilt für die Bühne und für das Publikum.

Unter Gläubigen hält die Kunst es mit dem Unglauben, unter Ungläubige­n mit dem Glauben. Sie ist wahr, obwohl sie nichts beweist. Der Satz, auf dem die Arbeit aller ernsten Wissenscha­ft beruht, nämlich: dass A nicht zugleich Nicht-A sein kann – für die Kunst gilt er nicht. Zwei Seelen wohnen, ach ... Du bist gut und böse, folgst Engeln und dem Teufel, hältst Moral hoch und kannst dich auch sehr tief ducken. Und um verschiede­ner Meinung zu sein, bedarf es nicht mehrerer Personen. »Quod erat demonstran­dum«, sagt die Wissenscha­ft. »Wer’s glaubt, zahlt einen Taler«, sagt die Kunst.

Die Geschichte der Wissenscha­ften ist eine Geschichte der überwunden­en Wahrheiten. Kunst aber kennt den Untergang ihrer Wahrheit nicht. Weil diese Wahrheit jenseits von Wahr und Falsch, von Versuch und Irrtum liegt. Ödipus und Hamlet bleiben akute Wesen. Sophokles und Shakespear­e sind Gegenwarts­autoren – womit einfach nur gesagt ist, dass es in der Kunst keinen Fortschrit­t gibt. Das längst vergangene Alte ist das ewig Junge. Verändere! – aber wisse um die Grenzen, die der Existenz grundsätzl­ich eingeschri­eben bleiben. Halt ein! – aber wisse um die Horizonte, die alle Existenz, sie zu verändern, doch offenhalte­n.

Es war und ist was faul im Staate, auch wenn der nicht Dänemark heißt. Das klingt auf den ersten Zugriff so, als könne man aus dem Stück »Hamlet« etwas lernen. Nein, man lernt nichts, aber man kann etwas damit anfangen. Das ist ein großer Unterschie­d. Von Kunst hat man nichts. Aber man hat sich selbst. Für eine kostbare kurze Zeit, unter der Leselampe, im Theater, im Konzert, vor einem Bild. Wenn einem diese Kostbarkei­t ins Gemüt greift, hat die Welt draußen schon verloren. Vielleicht. Das ist der erste Schritt, um ihr beizukomme­n.

Kurzfristi­ge, gar unmittelba­re Wirkungen sind von Kunst nicht zu erwarten. Aber man möge sich nie darin täuschen, was möglich ist. Der Stasimann Wiesler im gleichnist­iefen Film »Das Leben der Anderen« wird bei seiner abgefeimte­n Abhörarbei­t immer wieder – unfreiwill­ig – Ohrenzeuge einer Klavier-»Sonate vom guten Menschen«, das rührt ihn, das weicht ihn auf, das verändert ihn. Reiner Kunze hat das Wunder Kunst im Gedicht »Nach einem Cembalokon­zert« berückend erfasst: »Im gehör / feingespon­nnes silber, das mit der Zeit/ schwarz werden wird // Eines tages aber wird die seele / an schütterer stelle / nicht reißen«.

Herrschend­e in die Konzerte! Uniformier­te in die Theater! Parteifunk­tionäre in die Galerien!

Beethoven gehört jedem Mörder, Goethe jedem Idioten, van Gogh jedem Ignoranten.

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Foto: AFP/Axel Schmidt Herrschend­e in die Konzerte! Uniformier­te in die Theater! Parteifunk­tionäre in die Galerien!

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