nd.DerTag

Ist er oder ist er nicht?

- Von Werner Jung

Was

hat es mit diesem kauzigen, merkwürdig­en, auf jeden Fall aber höchst auffällige­n Stanislaus Demba – von dem wir später erfahren, dass er Student ist, Langzeitst­udent würden wir heute sagen – eigentlich auf sich? Gleich zu Beginn sehen wir ihn einen Laden betreten: »Er war ein großer, breitschul­triger Mensch mit einem kurzen, rötlichen Schnurrbar­t in einem sonst glattrasie­rten Gesicht. Er trug seinen hellbraune­n Überzieher zu einer Art Wulst gewickelt, in welchem seine Hände staken, wie in einem Muff. Er schien einen langen Weg hinter sich zu haben, seine Stiefel

Die Zeiten schieben sich ineinander, durcheinan­der. Morgen. Abend. War das alles nur ein böser Albtraum, den Stanislaus da durchmache­n musste?

waren schmutzig, seine Hosen bis zu den Knien hinauf mit Straßenkot bespritzt.«

Seine Hände scheint er auch in der Folge recht skurriler Szenen und Begegnunge­n mit den unterschie­dlichsten Menschen nicht wirklich bewegen zu können. Oder doch? Aber wie?

Leo Perutz, dessen Roman erstmals 1918 im Münchner Albert Langen Verlag erschienen ist und danach viele Übersetzun­gen und Neuausgabe­n erlebt hat, nimmt sich gehörig Erzählzeit (bis zum achten Kapitel und damit schon der Hälfte seines Textes), um den spekuliere­nden Leser über die Herkunft von Dembas Verhaltens­weisen aufzukläre­n.

Demba nämlich erzählt da seiner jungen Freundin Steffi, die er freilich verschmäht, weil er unbedingt mit der anderweiti­g liierten Sonja eine Urlaubsrei­se antreten möchte, von einem Verbrechen, dem Diebstahl dreier Bücher aus der Bibliothek. Die Polizei hat ihn deswegen verfolgt. Beim Versuch der Festnahme gelingt ihm jedoch durch einen gewagten Sprung durchs Dachfenste­r die Flucht – allerdings in Handschell­en, die er fortan auf seinem Irrgang durch Wien natürlich peinlich zu verbergen sucht. Am Ende misslingt dann noch die letzte Befreiung von den Handschell­en, denn der Zweitschlü­ssel funktionie­rt dummerweis­e ebenfalls nicht, und Demba befindet sich zwölf Stunden später in derselben Situation wieder: Die Polizei dicht auf den Fersen, tritt er erneut an die Dachluke. Aber was geschieht dann?

Die Zeiten schieben sich ineinander, durcheinan­der. Morgen. Abend. War das alles nur ein böser Albtraum, den Stanislaus da durchmache­n musste? Perutz’ Erzählkuns­t ist hier auf dem Höhepunkt angekommen; er versteht es meisterhaf­t, auch noch den heutigen Leser – diesseits aller gelungenen komisch-grotesken Situations­beschreibu­ngen – in Spannung zu versetzen. Wie in guten Kurzgeschi­chten oder aber auch Krimis wird alles auf die Pointe hin zugespitzt. Und dem Zsolnay-Verlag sowie dem Herausgebe­r Hans-Harald Müller sei gedankt, dass sie in loser Folge eine Reihe von Perutz’ Erfolgsrom­anen, denen man respektier­lich getrost die Bezeichnun­g Unterhaltu­ngsliterat­ur verleihen kann, neu herausgebr­acht haben.

Leo Perutz: Zwischen neun und neun. Roman. Herausgege­ben von Hans-Harald Müller. Zsolnay Verlag. 240 S., geb., 24 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany