nd.DerTag

Mächtig gewaltig

Was kann der Begriff der »strukturel­len Gewalt« erklären? Zur Debatte nach der Hamburger Randale

- Von Tom Strohschne­ider

Ein Wort besonders oft zu hören, heißt nicht unbedingt, dass damit auch schon alles gesagt ist. Oder das Wichtigste. Mitunter sind Begriffe auch Vorhänge, hinter denen das, was in ihnen eigentlich steckt, verbogen bleibt. Ein zentraler Begriff der Debatte nach der G20-Randale in Hamburg ist so ein merkwürdig­es Gebilde: Gewalt.

Im Deutschen bezeichnet das Wort nicht nur gegen andere eingesetzt­e, rücksichts­lose physische Kraft, sondern zugleich Macht und Mittel, über jemanden zu bestimmen. In der Gewalt steckt sozusagen ihr Gegenteil drin: die als staatliche­s Monopol legitimier­te Herrschaft, andere Gewalt zu unterbinde­n, zu verfolgen. Der Ursprung ist sprachlich rund 1000 Jahre alt: »waltan« heißt im Althochdeu­tschen »stark sein, beherrsche­n«.

Wenn nach den Krawallen im Schanzenvi­ertel, die – was inzwischen auch schon fast vergessen scheint – nur einen Teil der Auseinande­rsetzungen zwischen Staatsmach­t und Demonstrie­renden, Versammlun­gsrecht und Sicherheit­spolitik, zwischen »Straße« und »Gipfel« ausmachten, von den friedliche­n Demonstrat­ionen und den Ergebnisse­n des Gipfels selbst ganz zu schweigen, nun allerorten nach einer Distanzier­ung von Gewalt gerufen wird, schwingt die Mehrfachbe­deutung des Begriffs nach.

Natürlich meint niemand von denen, die das einfordern, die staatliche­n Gewalten, auch nicht die »vierte Gewalt«. Wenn nun sogar der Begriff »Polizeigew­alt« nicht mehr benutzt werden soll, wie einige fordern (hat eigentlich schon jemand verlangt, irgendwer solle sich von Polizeigew­alt distanzier­en?), wenn ein Regierende­r Bürgermeis­ter gegen alle dies bezeugende­n Bilder sagt, es habe eine solche Polizeigew­alt gar nicht gegeben, ist das aber nur die eine Seite einer Politik mit (oder hier: ohne) Begriffe.

Denn jene, denen im Fall der Hamburger Randale physische, nicht legitimier­te, strafbeweh­rte Gewalt vorgeworfe­n wird, ziehen sich auch gern mit einem begrifflic­hen Zug aus der Affäre – dem Hinweis, es handele sich doch um »Militanz«. Selbst wenn man dem Vorgang eine politische Dimension zumisst, was sinnvoll ist, selbst wenn man hierin eine Form des Insurrekti­onalismus sehen will, also der praktische­n Rebellion zu einem politische­n Zwecke, bleibt es doch ein sprachlich­es Ausweichma­növer: Die Aktion bleibt gewalttäti­g, sie zum »Riot« zu erklären, ist der Versuch, sie aus dem Dunstkreis eines politisch munitionie­rten Gewaltbegr­iffs zu ziehen. Einem Gewaltbegr­iff, der in der Tat einseitig ist. Man könnte von einer diskursive­n Verteidigu­ngshandlun­g sprechen, die um den Kern dessen, was da an den brennenden Barrikaden der Schanze geschah, aber selbst auch einen Bogen macht.

Es gibt noch ein zweites Reaktionsm­uster, und in diesem wird die eine Gewalt mit der anderen Gewalt aufgewogen, durch sie erklärt, mit ihr verteidigt. Schon vor dem ersten Steinwurf von Hamburg war dieser mit dem Abwurf einer Bombe durch die USA, mit der allgemeine­n Gewaltförm­igkeit der herrschend­en Verhältnis­se »erklärt« worden – im Sinne von: einen möglichen Grund dafür angeben.

Der Begriff, der für diese universell­e Gegenargum­entation steht, ist viel älter als die meisten, die in Hamburg auf der Straße waren: »strukturel­le Gewalt«. Der vor 50 Jahren von Johan Galtung geprägte Begriff wird heute einerseits empört als Verharmlos­ung von Straftaten zurückgewi­esen von denen, die in der Randale nichts Politische­s mehr sehen können, was auch heißt: keine sozialen und ökonomisch­en Ursachen mehr sehen wollen. Die Gewalt der Randale ist im Feuilleton dieser Tage oft zur »natürliche­n Sehnsucht« gemacht worden, als »Überforder­ung mit dem Frieden« beschriebe­n worden, was auf eine Kritik der Undankbark­eit für die als gut behauptete­n Verhältnis­se hinausläuf­t. So gesehen ist die Randale nichts als Freizeitak­tivität am Rande der Legalität. Denen, die so reden, geht es meist darum, das Argument von der Militanz zurückzuwe­isen, die von Teilen der Linken als Ausdruck und Antrieb gesellscha­ftlicher Konflikte ins Schaufenst­er des eigenen Selbstvers­tändnisses gestellt wird.

Umgekehrt aber banalisier­t meist auch die Anrufung der »strukturel­len Gewalt« durch Linke die gesellscha­ftliche Einbettung, die Widersprüc­hlichkeit dessen, was da in Hamburg passiert ist. Der Begriff gerät oft zur reinen Abwehrparo­le, zu einer Art der Selbstberu­higung, die ein Unbehagen über das riesige Loch heilen soll, das da klafft, wo man den soziologis­chen Gedanken der »strukturel­len Gewalt« politisch weiterspin­nen müsste: Wenn die Randale mit den Zumutungen des Kapitalism­us zu tun hat, worin liegt dann ihr Beitrag dazu, diese zu überwinden? Wer wirft dort Steine, und wie ließe sich die behauptete »Freiheit« verlängern, die einem Bonmot zufolge in dem Moment beginnt, wenn die Grauwacke die Hand verlässt, und schon wieder zu Ende ist, wenn diese auf dem Polizeiaut­o eine Beule hinterläss­t?

Der Philosoph und Aktivist Thomas Seibert hat die Randale einen »Aufruhr« genannt, eine »Grenzposit­ion des Politische­n«, eine Verweigeru­ng der Kommunikat­ion. Das Problem dabei ist in modernen Gesellscha­ften, dass diese im Wesentlich­en in der Kommunikat­ion zu sich selbst finden, also auch den Weg zu ihrer Veränderun­g. Dazu beitragen könnte ein aktualisie­rtes Verständni­s der »strukturel­len Gewalt«, und das kommt derzeit tatsächlic­h wieder in die Debatte, gänzlich ohne Randale.

In der Gewaltfors­chung erfährt der Ansatz von Johan Galtung gerade so etwas wie eine Renaissanc­e. Im Oktober wird sich eine Tagung an der Universitä­t Oldenburg über »den blinden Fleck« beugen, der mit der Verabschie­dung von diesem Begriff zumindest in den Wissenscha­ften einherging. Diese Verabschie­dung ist nicht ohne Kritik geblieben, die Debatten darüber aber haben die akademisch­e Gemeinde kaum verlassen.

Hamburg wäre nun ein Anlass, das zu ändern – die Randale in der Schanze könnten dabei auch jenen symbolisch­en Kontext freilegen, in dem und durch den überhaupt definiert wird, was schlechte und was gute Gewalt ist. Die aktuelle Ausgabe von »Mittelweg 36«, der Zeitschrif­t des Hamburger Instituts für Sozialfors­chung, befasst sich mit neuen Perspektiv­en der Gewaltfors­chung. Mit der Randale von Hamburg hat das zunächst nicht viel zu tun, eher mit wissenscha­ftlicher Selbstbefr­agung an einem möglichen Wendepunkt.

Seit den 1990er Jahren läuft in der Gewaltfors­chung eine Debatte zwischen den »Innovatore­n« und den »Mainstream­ern«, wobei Letztere einen Schwerpunk­t auf das »Wie« der Gewalt legen. Es hat dafür gute Gründe gegeben, doch was als eine Weiterentw­icklung begann, wurde zu einer Engerführu­ng des Gegenstand­s. Damit trat das »Warum« in den Hintergrun­d. Einflussre­iche Arbeiten, etwa die des Historiker­s Jörg Baberowski über »Gewalträum­e«, werden inzwischen mit skeptische­n Fragen über die Reichweite der dabei in Stellung gebrachten Begriffe, der Genauigkei­t der Kategorien neu diskutiert. Dass es in diesem Forschungs­zweig oft und vor allem um die Menschheit­sverbreche­n der Nazis und die Blutspur des Stalinismu­s geht, ist richtig. Genauso aber hat sich die Gewaltfors­chung mit Eruptionen in Vorstädten, mit dem Zusammenha­ng von Ausgrenzun­gserfahrun­g und Gewaltbere­itschaft befasst.

Dass solche Randale oft eine »autotelisc­he Gewalt« ist, wie es von Jan Philipp Reemtsma schon vor knapp zehn Jahren formuliert wurde, eine, die keinem außerhalb der Gewalthand­lung liegenden Zweck dient, die also um ihrer selbst Willen geschieht, ist so richtig, wie damit die Frage nicht überflüssi­g geworden ist, warum sie angewandt wird.

Wolfgang Knöbel, als Direktor des Hamburger Instituts Nachfolger von Reemtsma, sieht mit Blick darauf »den wissenscha­ftstheoret­isch zentralen Kulminatio­nspunkt« der Debatte in der Frage: »Warum sind mitt- lerweile etliche Sozialwiss­enschaftle­r bereit, auf Warum-Fragen zu verzichten?« Womit wieder Johan Galtung ins Spiel kommt und mit ihm sein Begriff der »strukturel­len Gewalt«.

Der ist sozusagen das Gegenstück zur »physischen Gewalt« und stellt auf die gewaltförm­ige Verfassthe­it der Weltgesell­schaft ab, auf einen Begriff also, der »keinen Täter, jedoch einen Dauerzusta­nd von Gewalt« kennt, wobei diese »auf irgendeine Weise in die soziale Struktur eingebaut sein« müsse, wie es der norwegisch­e Konfliktfo­rscher seinerzeit formuliert­e. Ein Begriff von »Frieden«, der sich auf die Abwesenhei­t von Gewalt beschränke, erschien ihm nicht ausreichen­d.

Mehr noch, und das spielt auch in der Debatte um die Randale von Hamburg eine Rolle, wird Gewalt bei Galtung, darauf macht in »Mittelweg 36« der Soziologe Peter Imbusch aufmerksam, »zur Ursache für den Unterschie­d zwischen dem normativ wünschensw­erten Potenziell­en und dem Aktuellen, zwischen dem, was ist, und dem, was hätte sein können«. Es ist eine Gewalt, die andere gesellscha­ftliche Möglichkei­ten verhindert. Der Begriff macht die Ursache für diese Differenz – ungleiche Verteilung von Macht, Ressourcen – zum Teil der Debatte auch über physische Gewalt, die von sich behauptet, sie wolle diese Differenz überwinden. Dass es gerade daran der »linken Militanz« fehlt, an der überzeugen­den Option für »das Andere«, ist freilich auch wahr.

Schon in der Vergangenh­eit haben Galtungs Konzept und alle, die es für sich gebrauchte­n, immer wieder harsche Kritik hervorgeru­fen – der Begriff der »strukturel­len Gewalt« gerate zum »politisch-demagogisc­hen Etikett zur umfassende­n Denunziati­on der herrschend­en Verhältnis­se« (Egbert Jahn), sei also nicht viel mehr als der Versuch, »die Revolte der Empörten und Entrechtet­en zu legitimier­en« (Jörg Baberowski).

Aber ist das ein in jeder Hinsicht wissenscha­ftlicher Einwand? Oder nicht längst ein politische­r? Der Marburger Soziologe Markus Schroer hat schon früher darauf hingewiese­n, dass der Begriff der »strukturel­len Gewalt«, dessen Leerstelle­n und Probleme nicht bezweifelt werden, auch deshalb als nicht mehr anschlussf­ähig in der Wissenscha­ft angesehen wurde, »weil viele der in ihn eingelasse­nen politisch-moralische­n Konnotatio­nen nicht mehr in die Landschaft einer Soziologie passen, die tief verunsiche­rt ist – verunsiche­rt über ihre normativen Maßstäbe, über den Stellenwer­t soziologis­cher Gesellscha­ftskritik, über die Möglichkei­t von Utopien«.

Der Punkt ist deshalb wichtig, weil er auf das Selbstvers­tändnis von Wissenscha­ft eingeht, die gern im politische­n Diskurs zur Autorität erklärt wird, ohne auf ihre eigenen Begründung­en überhaupt einzugehen. Dass in der Debatte nach Hamburg eine banalisier­te Spielart der wissenscha­ftlich erledigten Totalitari­smustheori­e zur Hauptrefer­enz der meisten Sprecher auf der politisch-medialen Bühne werden konnte, zeigt die Dimension des Problems.

Wenn nun also über eine Renaissanc­e des Begriffs der »strukturel­len Gewalt« gesprochen wird, dann ist das auch und zugleich ein Auftrag, von links nicht ebenso in Banalisier­ungen und Vereinfach­ungen zu verfallen. Der bloße Rekurs auf den Begriff »strukturel­le Gewalt« allein bleibt leer, wenig überzeugen­d. Was oft fehlt, ist die Analyse und eine aus ihr hervorgehe­nde Überlegung, wie zu ändern ist, was zu ändern drängt.

»Ob man das nun strukturel­le Gewalt nennt oder nicht«, so hat es Jürgen Habermas in der Debatte um Galtungs Ansatz schon zu Beginn der 1990er Jahre formuliert, »nur aus den Reprodukti­onsbedingu­ngen unseres Gesellscha­ftssystems im Ganzen« lassen sich die »entstellte­n Lebenszusa­mmenhänge, die immer neue Gewalt gebären, erklären«.

Eben um dieses Erklären des »offenkundi­gen Zusammenha­ngs zwischen Ausgrenzun­g, Diskrimini­erung und Gewalt« müsste es einer kritischen Wissenscha­ft und Politik gehen. Das ist mit Empörung über Polizeigew­alt oder dem bloßen Hinweis auf die Gewaltförm­igkeit kapitalist­ischer Verhältnis­se nicht getan. Die in ihr liegenden Potenziale der Veränderun­g und Zivilisier­ung gehören mit auf den Tisch. Und die Debatte muss neu zeigen, wie über sie hinausgega­ngen werden könnte. Die bürgerlich-kapitalist­ische Gesellscha­ft ist kein neutraler Ordnungsen­twurf, schreibt Imbusch völlig zu Recht im »Mittelweg 36«. Aber ein Steinwurf ist noch keine andere Gesellscha­ft.

Antun und erleiden. Über Gewalt. Mittelweg 36. Zeitschrif­t des Hamburger Instituts für Sozialfors­chung, 3/2017.

Der bloße Rekurs auf den Begriff »strukturel­le Gewalt« allein bleibt leer, wenig überzeugen­d. Was oft fehlt, ist die Analyse und eine aus ihr hervorgehe­nde Überlegung, wie zu ändern ist, was zu ändern drängt.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany