Warten unterm Eukalyptusbaum
Mit Geld, medizinischer Ausbildung und wissenschaftlicher Begleitung unterstützen ausländische Hilfsorganisationen ihre äthiopischen Partner beim Kampf gegen das Erblinden.
Hunderttausende Menschen sind im südlichen Äthiopien von einer gefährlichen Augenkrankheit bedroht, die unbehandelt zur Erblindung führt. Fliegen helfen dem Erreger des Trachoms bei der Ausbreitung. Der Mangel an sauberem Wasser, fehlende Toiletten und Brunnen sowie unbeschreibliche Armut begünstigen diese Entwicklung. Dabei könnte alles so einfach sein. Erhielten Kinder rechtzeitig Medikamente oder Betroffene im Anfangsstadium eine kleine Operation, könnte der Epidemie Einhalt geboten werden. Hilfsorganisationen versuchen das vor Ort.
Der junge Mann sitzt seit Stunden unter einem Schatten spendenden Eukalyptusbaum vor dem Gesundheitszentrum im äthiopischen Goflela Village, ungefähr 145 Kilometer südlich der Hauptstadt Addis Abeba. Es sind 35 Grad und er trägt ein T-Shirt, darüber einen langärmeligen Pullover, eine turbanartige Kopfbedeckung, lange Hosen, Socken in den Sandalen. Die beste Bekleidung gegen Hitze und Staub. Das weiß Lahona mit den wachen Augen.
An diesem Tag hat er Asiya Gelesso aus seinem Dorf hierher begleitet, weil ein Team der äthiopischen Hilfsorganisation Grarbet Tehadiso Mahber (GTM) aus der Distrikthauptstadt Butajira gekommen ist, um die Menschen aus der Umgebung zu untersuchen und gegebenenfalls an Ort und Stelle medizinisch zu versorgen. Asiya ist 75 Jahre alt, sie hätte den langen Weg von ihrer Hütte über ausgetrocknete rostbraune Straßen niemals aus eigener Kraft bewältigen können. Ihre Augen sind rot gerändert und geschwollen, der weiße Augapfel vergrößert, die Lider unnatürlich dick. Sie hat Schmerzen. Lahona – in der rechten Hand den typischen Wanderstock seiner Landsleute und in der linken eine bauchige gelbe Teekanne, in der ein Rest Wasser schwappt – weicht nicht von ihrer Seite. Auch nicht, als sie von GTMMitarbeiter Gizachew Abeke in sein Kämmerchen gerufen wird, wo dieser ihr mit einer Taschenlampe in die Augen leuchtet und sekundenschnell die Diagnose stellt: Asiya ist am Trachom erkrankt. Nicht das erste Mal, wie sie resigniert hinzufügt.
Das Trachom ist eine äußerst schmerzhafte Augeninfektion. Sie stellt im ländlichen Zentraläthiopien ein großes Problem dar. Rund eine Million Menschen sind davon betroffen, die meisten hier im Bundesstaat Southern Nations, Nationalities and People (SNNP), einem von elf im Lande, in dem auch Asiyas Dorf liegt. Verursacht wird sie von einem kleinen Bakterium, Chlamydia trachomatis, nicht einmal einen millionstel Millimeter groß. In Deutschland und anderen Industrieländern vor allem als Auslöser von sexuell übertragbaren Erkrankungen bekannt, fügt der klitzekleine Erreger den Augen afrikanischer Kinder und Frauen – denn diese sind besonders betroffen – unter ungünstigen hygienischen Bedingungen so viel Schaden zu, dass sie ihre Sehkraft einbüßen. Und die Verhältnisse sind vielerorts nicht günstig. Es mangelt an sauberem Wasser. Die Bakterien können sich über Lappen, ungewaschene Hände und Fliegen immer wieder aufs Neue verbreiten. Der nächste Brunnen befindet sich oft viele Kilometer weit entfernt von den einfachen Hütten aus Baumstämmen und Stroh, in denen ein paar abgewetzte Stoffmatten auf dem Boden den Menschen als Bett für die gesamte Familie dienen.
Hier gibt es keinen Strom, hier liegen Gesunde und Kranke nachts dicht an dicht. Ein Stückchen hin stehen Ziege und Esel. Weil Seife fehlt, wird an deren Stelle Asche aus der Feuerstelle inmitten der Hütte benutzt. Toiletten in Form von Latrinen fehlen mitunter ganz oder es gibt sie, aber sie werden nicht benutzt, weil sie nicht zur Tradition der hiesigen Bauern gehören. Viel Aufklärung ist notwendig, um sie vom Sinn solcher Dinge zu überzeugen.
Abeke versucht das. Vor ungefähr 100 Dorfbewohnern, die heute hierher zur Untersuchung gekommen sind, erklärt er, wie sich das Trachom und andere Augenkrankheiten verbreiten, woran man sie erkennt und was man dagegen tun kann. Sein Vortrag hört sich an wie ein großer Gesang, nein mehr noch: Es ist eine Performance, ein Ein-PersonenStück, bei dem er zwischen den bunt gekleideten Menschen umherspringt, die Stimme senkt und und wieder hebt, den einen oder anderen persönlich anspricht, gestikuliert, tanzt, deklamiert. Einen Bambusstab schwingt er hoch in die Luft, um ihn dann eindrucksvoll zu zerbrechen – sein Beispiel dafür, wie die Krankheit die Sehkraft des Auges unwiderruflich zerstört. »Ādamit’i«, »hört zu!«, ruft er immer wieder in Amharisch, der Sprache, die in dieser Region gesprochen wird. Es ist eine von 80 im gesamten Land. So wie er den Bam- busstab zerbrach, fügt er ihn mit großer Geste wieder zusammen. Das soll heißen: Schaut her, die Krankheit kann besiegt werden. Aber das funktioniert nur, wenn ihr euch morgens und abends das Gesicht wascht. Wenn ihr sauberes Wasser benutzt. Wenn ihr euch nach dem Besuch der Toilette die Hände wascht, »ādamit’i, ādamit’i«, hört zu, hört zu.
Es ist nicht leicht für den engagierten Mitarbeiter der äthiopischen Hilfsorganisation, die vor ihm in sengender Sonne sitzenden Landsleute zu erreichen, obwohl deren Geduld unendlich zu sein scheint. Tags zu-
vor hat sie ein Lautsprecherwagen darüber informiert, wann die medizinische Sprechstunde hier gleich neben der Schule stattfinden wird. Also haben sie sich eingefunden. Sitzen und warten. Die Älteren von ihnen können weder lesen noch schreiben, sie folgen dem Vortrag mit Augen und Ohren. Ihre Kinder haben es schon besser. Sie besuchen die benachbarte Schule und tragen kleine Bündelchen von Heften unter dem Arm, die mit einem Stofffetzen zusammengehalten oder einzeln transportiert werden.
Manche Gesichter bleiben angesichts der temperamentvollen Vor- stellung unbewegt, in anderen stehen Fragezeichen. Abeke beantwortet viele Fragen und lässt seine Zuhörer und Zuschauer die wichtigsten Fakten im Chor wiederholen. Das Ganze gleicht einer religiösen Zeremonie. Doch was hier stattfindet, ist viel mehr: eine Art Überlebenstraining für Menschen, die vom weltweiten Fortschritt abgekoppelt sind, nicht nur bei der Bekämpfung von Krankheiten.
In Äthiopien hungern nach Angaben der Vereinten Nationen 5,7 Millionen Menschen. Dürrekatastrophen haben dazu ebenso geführt wie eine korrupte und repressive Politik, die zulässt, dass den Bauern Land genommen wird, um es ausländischen Investoren zuzuschanzen, die darauf Tabak anbauen oder Lebensmittel für den Export, die kein äthiopischer Bürger je zu Gesicht bekommt, geschweige denn zu essen. Neben dem Hunger tragen Wassermangel und schlechte hygienische Verhältnisse dazu bei, dass sich Krankheiten ausbreiten. Hilfsorganisationen sind im Land, um das Leid der Menschen zu lindern. Sie leiten zum Brunnenbau an, richten Schulen ein, teilen Lebensmittel aus. Eine von ihnen ist die Christoffel-Blindenmission (CBM).
Seit über 20 Jahren unterstützt sie zusammen mit lokalen Partnern Programme zur Bekämpfung der sogenannten vernachlässigten Tropenkrankheiten, zu denen das Trachom gehört. So baut sie in abgelegenen ländlichen Gebieten Gesundheitsstationen mit auf, organisiert die Massenverteilung von Medikamenten, unterstützt Schulgesundheitsprogramme. Allein 2016 erhielten aus Spendengeldern dieser Organisation 4,2 Millionen Menschen Medikamente gegen die Augenkrankheit Trachom und fast 4 Millionen Menschen gegen die Flussblindheit. Auch das Hospital von Butajira, eine Einrichtung der äthiopischen Partnerhilfsorganisation der Christoffel-Blindenmission, profitiert davon. Hierher kommen täglich Hunderte von Menschen aus der Umgebung, und es gehen Teams in die Dörfer, um jenen zu helfen, die den Weg nicht bewältigen können, wie Asiya Gelesso.
Die 75-Jährige ist auf dem Health Post, dem Gesundheitsposten von Goflela Village, auf eine Liege gebettet worden. Ihr Gesicht ist bis auf die Augen abgedeckt. Sie jammert und stöhnt, während ein Kollege von Gizachew Abeke zu den scherenähnlichen Instrumenten greift, mit denen er die vernarbten Augenlider operieren wird. Sie habe keine Schmerzen, erklärt Mohammed Neqash. Asiya habe eine lokale Betäubung bekommen. Es sei die Angst, die sie so jammern lasse, und die Unwissenheit, was mit ihr geschehe. 15 bis 20 Menschen operiert Mohammed an jedem Tag im Außendienst. Jeder Eingriff dauert ungefähr 30 Minuten und kostet etwa 80 Birr, das sind rund 20 Euro. Hat der Patient ein Einkommen, muss er das bezahlen. Hat er keines, ist der Eingriff für ihn kostenlos. Interessant und in Deutschland, wo es nahezu unmöglich ist, einfachste medizinische Dienstleistungen an nichtärztliches Personal zu delegieren, unvorstellbar: Die hier die Menschen diagnostizieren und operieren, sind gar keine Ärzte. Abeke und Mohammed haben sich wie Hunderte anderer Äthiopierinnen und Äthiopier eigens für diese Tätigkeit über mehrere Monate hinweg zur »ophtalmic nurse« ausbilden lassen. Das kann man mit Augenpflegefachkraft übersetzen. Ophtalmic Nurses haben in den ländlichen Regionen Äthiopiens viel Arbeit und eine große Verantwortung, besonders in diesem Bundesstaat, aber auch in den zehn weiteren. Sie diagnostizieren Krankheiten, nehmen unter einfachsten Bedingungen Augenlidoperationen vor Ort vor und entwickeln zusammen mit ihren Partnern in den Hilfsorganisationen Programme, um Krankheitsursachen wie die fehlende Wasserversorgung und die daraus resultierende mangelnde Hygiene zu bekämpfen.
Bis 2019 soll in den Distrikten Silti, Mareko und Meskan sowie in der Waghemra-Zone die Verbreitung des Trachoms auf unter zehn Prozent, bei Kindern sogar auf unter fünf Prozent gesenkt werden. So jedenfalls sieht es der gemeinsame Plan der ChristoffelBlindenmission und ihrer äthiopischen Partner vor. Bislang sind in die-
Abeke schwingt einen Bambusstab hoch in die Luft, um ihn dann eindrucksvoll zu zerbrechen. So wie er ihn zerbricht, fügt er ihn mit großer Geste wieder zusammen. Das soll heißen: Schaut her, die Krankheit kann besiegt werden.
ser Gegend 30 Prozent der Bevölkerung betroffen und die Hälfte aller Kinder. Über 518 300 Menschen leben in großer Armut. Soll der Plan gelingen, ist es mit Augenlid-Operationen nicht getan. Die Verteilung von Antibiotika an alle trachominfizierten Personen gehört ebenso dazu wie der Bau von Brunnen und Toiletten sowie das Augen-Gesundheitstraining für Lehrer und Gesundheitshelfer auf den Dörfern. Das will auch die Strategie der Weltgesundheitsorganisation. Sie bezeichnet dieses konzentrierte Vorgehen auf mehreren Gebieten mit der Abkürzung SAFE. Die steht für S wie Surgery (Operation), A wie Antibiotika, F wie Face Washing (Gesichtshygiene) und E wie Environment (Umwelt).
Allein aus Geldern der ChristoffelBlindenmission in Deutschland wurden bis zum Ende des vergangenen Jahres über 680 000 Menschen in Äthiopien zur Vorbeugung gegen Trachom behandelt, mehr als 29 000 infizierte Personen erhielten Medikamente und 2786 Augenlid-Operationen fanden statt. Mehr als 230 barrierefreie Latrinen und 42 Brunnen wurden angelegt.
Vor so einem neuen Brunnen in Mehal Beja Village südlich von Butajira hat sich eine kleine Schlange von Frauen und Kindern mit gelben Kanistern gebildet. Von jeher ist es in Äthiopien Sache der Frauen gewesen, Wasser zu besorgen – sowohl zum Waschen als auch zum Trinken und Kochen. Nicht selten müssen sie Tagesmärsche absolvieren, um es heranzuschaffen. Hier im Dorf hieß es bis vor kurzem, zu diesem Zweck zwölf Kilometer in die Berge zu einer Quelle zu laufen. Anschließend schleppten Frauen oder Kinder die schweren Kanister den gleichen Weg zurück, denn Esel, die diese Arbeit übernehmen könnten, finden sich nicht im Besitz einer jeden Familie.
Bürgermeister Worake Umer ist folglich sehr stolz auf den neuen Brunnen und die benachbarte Toilette, vor der ein Behindertenstuhl steht. Maximal zwei Kilometer seien jetzt höchstens noch zu bewältigen, wenn die Frauen Wasser holen müssen, erzählt er und posiert fröhlich im abgezäunten Brunnenareal. In seinem Dorf gibt es ein Waschkomitee aus zwei Frauen und drei Männern, die von Hütte zu Hütte gehen und dafür werben, sich familieneigene Latrinen zu bauen und sich nach der Toilettenbenutzung die Hände zu waschen, berichtet er weiter. Erfolge sind in der Tat sichtbar. Eine Familie hat sogar eine alte Plastikflasche mit Wasser an einem Gestell neben der Latrine festgebunden, damit sie nicht vom Wind verweht oder von Tieren weggeschleppt werden kann. Glaubt man Worake, dem Vater von acht Kindern, Besitzer zweier Hütten, einer Latrine mit Vorhang und einer großen Kath-Plantage – dem Erlös aus dem Verkauf der Kaudroge Cathay edulis verdankt er wohl einen beträchtlichen Teil seines vergleichsweise wohlständigen Daseins – hat die Hygiene hier in Mehal Beja Village ein neues Zuhause gefunden.
Doch ganz so scheint es nicht zu sein. Eine junge Frau, die gerade am Brunnen ihre Kanister füllen will, kann den Lobeshymnen des Bürgermeisters auf die neueste Errungenschaft des Dorfes nicht unwidersprochen zuhören. Schon mehrfach musste sie das Versagen des neuen Wasserspenders erleben. Sei es, weil die geologischen Komponenten für seine Errichtung falsch berechnet worden waren – immerhin hat es in dieser Gegend seit einem Jahr nicht mehr geregnet –, sei es, dass er abgestellt wurde, oder sei es, dass irgendetwas anderes nicht funktionierte. Sie attackiert das 65-jährige Gemeindeoberhaupt, unterstützt von anderen Geschlechtsgenossinnen. Wer Recht hat, ist am Ende der hitzigen Debatte nicht zweifelsfrei festzustellen. Doch wem, wenn nicht den Frauen, sollte man hier glauben? Sie sind in Äthiopien die Wasserexperten, doch ob sie in dieser muslimisch geprägten Ecke des Landes als solche anerkannt und gehört werden, sei dahingestellt.
37 Prozent der in der Region Butajira lebenden Kinder haben ein aktives Trachom, sagt Martin Kollmann, Fachberater der ChristoffelBlindenmission für vernachlässigte Tropenkrankheiten, zu denen man neben dem Trachom 17 weitere von Würmern, Viren und Bakterien übertragene Krankheiten zählt, darunter Elephantiasis, Flussblindheit oder Billharziose. 1,9 Milliarden Menschen sind nach Angaben des deut- schen Netzwerkes für diese Krankheiten derzeit weltweit in Gefahr arbeitsunfähig, blind, entstellt zu werden oder zu sterben. Bis zu einer halben Million Menschen stirbt jedes Jahr an einer der Krankheiten. Trotz dieser Zahlen glaubt Martin Kollmann, mit gemeinsamer Anstrengung die Bedrohungen aufhalten zu können. »Es geht darum, die Übertragung zu unterbrechen«, sagt der engagierte deutsche Mediziner, der in Nairobi lebt und in vielen afrikanischen Ländern für die CBM tätig ist.
Das könne durch Operationen, Aufklärung, Antibiotikavergaben und bessere Hygiene durchaus erreicht werden. Ziel sei es, das Trachom bis 2020 als öffentliches Gesundheitsproblem weltweit zu besiegen. Es sei wie die anderen vernachlässigten Tropenkrankheiten eine Armutserscheinung, begünstigt durch Wassermangel, fehlende Toiletten, Bildungslücken und schlechte Infrastruktur. Wenn nicht mehr als zwei von 1000 Einwohnern am Trachom erkrankt sind, gelte die Krankheit nicht mehr als Bedrohung. »Wir werden erfolgreich sein, wir wissen es«, sagt Kollmann. In Oman und Marokko habe die Vorgehensweise bereits funktioniert. Die Länder seien trachomfrei. Sicher könnte die äthiopische Regierung bei der Bewältigung dieses Problems aktiver werden, anstatt sich auf der Arbeit und den Geldern der Hilfsorganisationen sowie ihrem guten Ruf als afrikanisches Vorzeigeland, den auch deutsche Politiker gern mehren, auszuruhen. Doch das ist ein Eindruck, den die Mitarbeiter der CBM so nicht teilen mögen. Sie wollen ihre gute Zusammenarbeit mit den Behörden vor Ort im Interesse der hilfsbedürftigen Menschen nicht gefährden.
Anprangern ließe sich indes einiges. Mitarbeiter anderer in Äthiopien tätigen Hilfsorganisationen berichten von Telefonüberwachung, WhatsApp-Fotos können nicht verschickt werden und »Reporter ohne Grenzen« sehen in Sachen Informationsfreiheit eine »schwierige Lage«. Der Fall des Bloggers Jomanex Kasaye bestätigt das. Er wollte Demonstrationen und Versammlungen in Addis Abeba organisieren und musste fliehen, um nicht wie zahlreiche seiner Mitstreiter im Gefängnis zu landen, wo Folter droht.
In Elose Village bei Butajira wissen die meisten Familien nichts von diesen Dingen. Sie sind froh, dass sich jemand um die Kranken kümmert. Um die 100 Menschen haben sich in einem Gesundheitszentrum versammelt, als die Abordnung des Hospitals aus Butajira mit ihren Autos eintrifft. Vorbei an einem mittelalterlich anmutenden Markt ging es über staubige Straßen, auf denen man vor allem Frauen mit Wasserkanistern begegnete, kleinen Hütejungen mit ihren Ziegen. Oder Eseln, die anscheinend auch ohne menschliche Begleitung wissen, wohin sie die Säcke mit Khat oder Brennholz transportieren müssen. Bajajs – die typischen Dreiräder, die in Butajira als Taxis Menschen und Güter befördern – sieht man in dieser Gegend kaum noch. Wer von A nach B will, geht zu Fuß, egal wie weit der Weg auch sein mag, wie unbarmherzig die Sonne brennt, wie viel Straßenschmutz in die Nase dringt. In diesem Dorf übernimmt Ophtalmic Nurse Sofia Muhammed die Aufklärung der Menschen über die Behandlung der blindmachenden Augenkrankheit. Unter ihren Patienten ist Alfia, Mutter von sieben Kindern; das älteste 18, das jüngste zwei Jahre alt.
Wegen Yetnuebershtadese ist Alfia gekommen. Der Kleine hängt an ihrem Busen, er weint verzweifelt und reibt sich die verklebten Augen, ohne dass dies die Fliegen auf seinen Lidern auch nur im mindesten erschrecken könnte. Alfia weiß, dass es sich bei ihrem Kind um die gefährliche Augenkrankheit Trachom handelt. Sie weiß auch, dass die antibiotische Salbe, für die sie jetzt das Rezept in den Händen hält, die Rettung für das sich hin und her windende Baby sein kann. Lesen kann sie es nicht. Ihre Unterschrift leistet sie mit einem farbigen Daumenabdruck. Und schämt sich sehr dabei. Vorausgesetzt, Yetnuebershtadese steckt sich nicht immer wieder an, könnte ihn das Medikament vor dem erneuten Ausbruch der Krankheit und der drohenden Erblindung bewahren. Aber sicher ist das nicht. Auf die Frage, was sie sich für ihr Kind am allermeisten wünsche, sagt Alfia ohne einen Augenblick zu überlegen: Bildung.