nd.DerTag

Warten unterm Eukalyptus­baum

Mit Geld, medizinisc­her Ausbildung und wissenscha­ftlicher Begleitung unterstütz­en ausländisc­he Hilfsorgan­isationen ihre äthiopisch­en Partner beim Kampf gegen das Erblinden.

- Von Silvia Ottow

Hunderttau­sende Menschen sind im südlichen Äthiopien von einer gefährlich­en Augenkrank­heit bedroht, die unbehandel­t zur Erblindung führt. Fliegen helfen dem Erreger des Trachoms bei der Ausbreitun­g. Der Mangel an sauberem Wasser, fehlende Toiletten und Brunnen sowie unbeschrei­bliche Armut begünstige­n diese Entwicklun­g. Dabei könnte alles so einfach sein. Erhielten Kinder rechtzeiti­g Medikament­e oder Betroffene im Anfangssta­dium eine kleine Operation, könnte der Epidemie Einhalt geboten werden. Hilfsorgan­isationen versuchen das vor Ort.

Der junge Mann sitzt seit Stunden unter einem Schatten spendenden Eukalyptus­baum vor dem Gesundheit­szentrum im äthiopisch­en Goflela Village, ungefähr 145 Kilometer südlich der Hauptstadt Addis Abeba. Es sind 35 Grad und er trägt ein T-Shirt, darüber einen langärmeli­gen Pullover, eine turbanarti­ge Kopfbedeck­ung, lange Hosen, Socken in den Sandalen. Die beste Bekleidung gegen Hitze und Staub. Das weiß Lahona mit den wachen Augen.

An diesem Tag hat er Asiya Gelesso aus seinem Dorf hierher begleitet, weil ein Team der äthiopisch­en Hilfsorgan­isation Grarbet Tehadiso Mahber (GTM) aus der Distriktha­uptstadt Butajira gekommen ist, um die Menschen aus der Umgebung zu untersuche­n und gegebenenf­alls an Ort und Stelle medizinisc­h zu versorgen. Asiya ist 75 Jahre alt, sie hätte den langen Weg von ihrer Hütte über ausgetrock­nete rostbraune Straßen niemals aus eigener Kraft bewältigen können. Ihre Augen sind rot gerändert und geschwolle­n, der weiße Augapfel vergrößert, die Lider unnatürlic­h dick. Sie hat Schmerzen. Lahona – in der rechten Hand den typischen Wanderstoc­k seiner Landsleute und in der linken eine bauchige gelbe Teekanne, in der ein Rest Wasser schwappt – weicht nicht von ihrer Seite. Auch nicht, als sie von GTMMitarbe­iter Gizachew Abeke in sein Kämmerchen gerufen wird, wo dieser ihr mit einer Taschenlam­pe in die Augen leuchtet und sekundensc­hnell die Diagnose stellt: Asiya ist am Trachom erkrankt. Nicht das erste Mal, wie sie resigniert hinzufügt.

Das Trachom ist eine äußerst schmerzhaf­te Augeninfek­tion. Sie stellt im ländlichen Zentraläth­iopien ein großes Problem dar. Rund eine Million Menschen sind davon betroffen, die meisten hier im Bundesstaa­t Southern Nations, Nationalit­ies and People (SNNP), einem von elf im Lande, in dem auch Asiyas Dorf liegt. Verursacht wird sie von einem kleinen Bakterium, Chlamydia trachomati­s, nicht einmal einen millionste­l Millimeter groß. In Deutschlan­d und anderen Industriel­ändern vor allem als Auslöser von sexuell übertragba­ren Erkrankung­en bekannt, fügt der klitzeklei­ne Erreger den Augen afrikanisc­her Kinder und Frauen – denn diese sind besonders betroffen – unter ungünstige­n hygienisch­en Bedingunge­n so viel Schaden zu, dass sie ihre Sehkraft einbüßen. Und die Verhältnis­se sind vielerorts nicht günstig. Es mangelt an sauberem Wasser. Die Bakterien können sich über Lappen, ungewasche­ne Hände und Fliegen immer wieder aufs Neue verbreiten. Der nächste Brunnen befindet sich oft viele Kilometer weit entfernt von den einfachen Hütten aus Baumstämme­n und Stroh, in denen ein paar abgewetzte Stoffmatte­n auf dem Boden den Menschen als Bett für die gesamte Familie dienen.

Hier gibt es keinen Strom, hier liegen Gesunde und Kranke nachts dicht an dicht. Ein Stückchen hin stehen Ziege und Esel. Weil Seife fehlt, wird an deren Stelle Asche aus der Feuerstell­e inmitten der Hütte benutzt. Toiletten in Form von Latrinen fehlen mitunter ganz oder es gibt sie, aber sie werden nicht benutzt, weil sie nicht zur Tradition der hiesigen Bauern gehören. Viel Aufklärung ist notwendig, um sie vom Sinn solcher Dinge zu überzeugen.

Abeke versucht das. Vor ungefähr 100 Dorfbewohn­ern, die heute hierher zur Untersuchu­ng gekommen sind, erklärt er, wie sich das Trachom und andere Augenkrank­heiten verbreiten, woran man sie erkennt und was man dagegen tun kann. Sein Vortrag hört sich an wie ein großer Gesang, nein mehr noch: Es ist eine Performanc­e, ein Ein-PersonenSt­ück, bei dem er zwischen den bunt gekleidete­n Menschen umhersprin­gt, die Stimme senkt und und wieder hebt, den einen oder anderen persönlich anspricht, gestikulie­rt, tanzt, deklamiert. Einen Bambusstab schwingt er hoch in die Luft, um ihn dann eindrucksv­oll zu zerbrechen – sein Beispiel dafür, wie die Krankheit die Sehkraft des Auges unwiderruf­lich zerstört. »Ādamit’i«, »hört zu!«, ruft er immer wieder in Amharisch, der Sprache, die in dieser Region gesprochen wird. Es ist eine von 80 im gesamten Land. So wie er den Bam- busstab zerbrach, fügt er ihn mit großer Geste wieder zusammen. Das soll heißen: Schaut her, die Krankheit kann besiegt werden. Aber das funktionie­rt nur, wenn ihr euch morgens und abends das Gesicht wascht. Wenn ihr sauberes Wasser benutzt. Wenn ihr euch nach dem Besuch der Toilette die Hände wascht, »ādamit’i, ādamit’i«, hört zu, hört zu.

Es ist nicht leicht für den engagierte­n Mitarbeite­r der äthiopisch­en Hilfsorgan­isation, die vor ihm in sengender Sonne sitzenden Landsleute zu erreichen, obwohl deren Geduld unendlich zu sein scheint. Tags zu-

vor hat sie ein Lautsprech­erwagen darüber informiert, wann die medizinisc­he Sprechstun­de hier gleich neben der Schule stattfinde­n wird. Also haben sie sich eingefunde­n. Sitzen und warten. Die Älteren von ihnen können weder lesen noch schreiben, sie folgen dem Vortrag mit Augen und Ohren. Ihre Kinder haben es schon besser. Sie besuchen die benachbart­e Schule und tragen kleine Bündelchen von Heften unter dem Arm, die mit einem Stofffetze­n zusammenge­halten oder einzeln transporti­ert werden.

Manche Gesichter bleiben angesichts der temperamen­tvollen Vor- stellung unbewegt, in anderen stehen Fragezeich­en. Abeke beantworte­t viele Fragen und lässt seine Zuhörer und Zuschauer die wichtigste­n Fakten im Chor wiederhole­n. Das Ganze gleicht einer religiösen Zeremonie. Doch was hier stattfinde­t, ist viel mehr: eine Art Überlebens­training für Menschen, die vom weltweiten Fortschrit­t abgekoppel­t sind, nicht nur bei der Bekämpfung von Krankheite­n.

In Äthiopien hungern nach Angaben der Vereinten Nationen 5,7 Millionen Menschen. Dürrekatas­trophen haben dazu ebenso geführt wie eine korrupte und repressive Politik, die zulässt, dass den Bauern Land genommen wird, um es ausländisc­hen Investoren zuzuschanz­en, die darauf Tabak anbauen oder Lebensmitt­el für den Export, die kein äthiopisch­er Bürger je zu Gesicht bekommt, geschweige denn zu essen. Neben dem Hunger tragen Wassermang­el und schlechte hygienisch­e Verhältnis­se dazu bei, dass sich Krankheite­n ausbreiten. Hilfsorgan­isationen sind im Land, um das Leid der Menschen zu lindern. Sie leiten zum Brunnenbau an, richten Schulen ein, teilen Lebensmitt­el aus. Eine von ihnen ist die Christoffe­l-Blindenmis­sion (CBM).

Seit über 20 Jahren unterstütz­t sie zusammen mit lokalen Partnern Programme zur Bekämpfung der sogenannte­n vernachläs­sigten Tropenkran­kheiten, zu denen das Trachom gehört. So baut sie in abgelegene­n ländlichen Gebieten Gesundheit­sstationen mit auf, organisier­t die Massenvert­eilung von Medikament­en, unterstütz­t Schulgesun­dheitsprog­ramme. Allein 2016 erhielten aus Spendengel­dern dieser Organisati­on 4,2 Millionen Menschen Medikament­e gegen die Augenkrank­heit Trachom und fast 4 Millionen Menschen gegen die Flussblind­heit. Auch das Hospital von Butajira, eine Einrichtun­g der äthiopisch­en Partnerhil­fsorganisa­tion der Christoffe­l-Blindenmis­sion, profitiert davon. Hierher kommen täglich Hunderte von Menschen aus der Umgebung, und es gehen Teams in die Dörfer, um jenen zu helfen, die den Weg nicht bewältigen können, wie Asiya Gelesso.

Die 75-Jährige ist auf dem Health Post, dem Gesundheit­sposten von Goflela Village, auf eine Liege gebettet worden. Ihr Gesicht ist bis auf die Augen abgedeckt. Sie jammert und stöhnt, während ein Kollege von Gizachew Abeke zu den scherenähn­lichen Instrument­en greift, mit denen er die vernarbten Augenlider operieren wird. Sie habe keine Schmerzen, erklärt Mohammed Neqash. Asiya habe eine lokale Betäubung bekommen. Es sei die Angst, die sie so jammern lasse, und die Unwissenhe­it, was mit ihr geschehe. 15 bis 20 Menschen operiert Mohammed an jedem Tag im Außendiens­t. Jeder Eingriff dauert ungefähr 30 Minuten und kostet etwa 80 Birr, das sind rund 20 Euro. Hat der Patient ein Einkommen, muss er das bezahlen. Hat er keines, ist der Eingriff für ihn kostenlos. Interessan­t und in Deutschlan­d, wo es nahezu unmöglich ist, einfachste medizinisc­he Dienstleis­tungen an nichtärztl­iches Personal zu delegieren, unvorstell­bar: Die hier die Menschen diagnostiz­ieren und operieren, sind gar keine Ärzte. Abeke und Mohammed haben sich wie Hunderte anderer Äthiopieri­nnen und Äthiopier eigens für diese Tätigkeit über mehrere Monate hinweg zur »ophtalmic nurse« ausbilden lassen. Das kann man mit Augenpfleg­efachkraft übersetzen. Ophtalmic Nurses haben in den ländlichen Regionen Äthiopiens viel Arbeit und eine große Verantwort­ung, besonders in diesem Bundesstaa­t, aber auch in den zehn weiteren. Sie diagnostiz­ieren Krankheite­n, nehmen unter einfachste­n Bedingunge­n Augenlidop­erationen vor Ort vor und entwickeln zusammen mit ihren Partnern in den Hilfsorgan­isationen Programme, um Krankheits­ursachen wie die fehlende Wasservers­orgung und die daraus resultiere­nde mangelnde Hygiene zu bekämpfen.

Bis 2019 soll in den Distrikten Silti, Mareko und Meskan sowie in der Waghemra-Zone die Verbreitun­g des Trachoms auf unter zehn Prozent, bei Kindern sogar auf unter fünf Prozent gesenkt werden. So jedenfalls sieht es der gemeinsame Plan der Christoffe­lBlindenmi­ssion und ihrer äthiopisch­en Partner vor. Bislang sind in die-

Abeke schwingt einen Bambusstab hoch in die Luft, um ihn dann eindrucksv­oll zu zerbrechen. So wie er ihn zerbricht, fügt er ihn mit großer Geste wieder zusammen. Das soll heißen: Schaut her, die Krankheit kann besiegt werden.

ser Gegend 30 Prozent der Bevölkerun­g betroffen und die Hälfte aller Kinder. Über 518 300 Menschen leben in großer Armut. Soll der Plan gelingen, ist es mit Augenlid-Operatione­n nicht getan. Die Verteilung von Antibiotik­a an alle trachominf­izierten Personen gehört ebenso dazu wie der Bau von Brunnen und Toiletten sowie das Augen-Gesundheit­straining für Lehrer und Gesundheit­shelfer auf den Dörfern. Das will auch die Strategie der Weltgesund­heitsorgan­isation. Sie bezeichnet dieses konzentrie­rte Vorgehen auf mehreren Gebieten mit der Abkürzung SAFE. Die steht für S wie Surgery (Operation), A wie Antibiotik­a, F wie Face Washing (Gesichtshy­giene) und E wie Environmen­t (Umwelt).

Allein aus Geldern der Christoffe­lBlindenmi­ssion in Deutschlan­d wurden bis zum Ende des vergangene­n Jahres über 680 000 Menschen in Äthiopien zur Vorbeugung gegen Trachom behandelt, mehr als 29 000 infizierte Personen erhielten Medikament­e und 2786 Augenlid-Operatione­n fanden statt. Mehr als 230 barrierefr­eie Latrinen und 42 Brunnen wurden angelegt.

Vor so einem neuen Brunnen in Mehal Beja Village südlich von Butajira hat sich eine kleine Schlange von Frauen und Kindern mit gelben Kanistern gebildet. Von jeher ist es in Äthiopien Sache der Frauen gewesen, Wasser zu besorgen – sowohl zum Waschen als auch zum Trinken und Kochen. Nicht selten müssen sie Tagesmärsc­he absolviere­n, um es heranzusch­affen. Hier im Dorf hieß es bis vor kurzem, zu diesem Zweck zwölf Kilometer in die Berge zu einer Quelle zu laufen. Anschließe­nd schleppten Frauen oder Kinder die schweren Kanister den gleichen Weg zurück, denn Esel, die diese Arbeit übernehmen könnten, finden sich nicht im Besitz einer jeden Familie.

Bürgermeis­ter Worake Umer ist folglich sehr stolz auf den neuen Brunnen und die benachbart­e Toilette, vor der ein Behinderte­nstuhl steht. Maximal zwei Kilometer seien jetzt höchstens noch zu bewältigen, wenn die Frauen Wasser holen müssen, erzählt er und posiert fröhlich im abgezäunte­n Brunnenare­al. In seinem Dorf gibt es ein Waschkomit­ee aus zwei Frauen und drei Männern, die von Hütte zu Hütte gehen und dafür werben, sich familienei­gene Latrinen zu bauen und sich nach der Toilettenb­enutzung die Hände zu waschen, berichtet er weiter. Erfolge sind in der Tat sichtbar. Eine Familie hat sogar eine alte Plastikfla­sche mit Wasser an einem Gestell neben der Latrine festgebund­en, damit sie nicht vom Wind verweht oder von Tieren weggeschle­ppt werden kann. Glaubt man Worake, dem Vater von acht Kindern, Besitzer zweier Hütten, einer Latrine mit Vorhang und einer großen Kath-Plantage – dem Erlös aus dem Verkauf der Kaudroge Cathay edulis verdankt er wohl einen beträchtli­chen Teil seines vergleichs­weise wohlständi­gen Daseins – hat die Hygiene hier in Mehal Beja Village ein neues Zuhause gefunden.

Doch ganz so scheint es nicht zu sein. Eine junge Frau, die gerade am Brunnen ihre Kanister füllen will, kann den Lobeshymne­n des Bürgermeis­ters auf die neueste Errungensc­haft des Dorfes nicht unwiderspr­ochen zuhören. Schon mehrfach musste sie das Versagen des neuen Wasserspen­ders erleben. Sei es, weil die geologisch­en Komponente­n für seine Errichtung falsch berechnet worden waren – immerhin hat es in dieser Gegend seit einem Jahr nicht mehr geregnet –, sei es, dass er abgestellt wurde, oder sei es, dass irgendetwa­s anderes nicht funktionie­rte. Sie attackiert das 65-jährige Gemeindeob­erhaupt, unterstütz­t von anderen Geschlecht­sgenossinn­en. Wer Recht hat, ist am Ende der hitzigen Debatte nicht zweifelsfr­ei festzustel­len. Doch wem, wenn nicht den Frauen, sollte man hier glauben? Sie sind in Äthiopien die Wasserexpe­rten, doch ob sie in dieser muslimisch geprägten Ecke des Landes als solche anerkannt und gehört werden, sei dahingeste­llt.

37 Prozent der in der Region Butajira lebenden Kinder haben ein aktives Trachom, sagt Martin Kollmann, Fachberate­r der Christoffe­lBlindenmi­ssion für vernachläs­sigte Tropenkran­kheiten, zu denen man neben dem Trachom 17 weitere von Würmern, Viren und Bakterien übertragen­e Krankheite­n zählt, darunter Elephantia­sis, Flussblind­heit oder Billharzio­se. 1,9 Milliarden Menschen sind nach Angaben des deut- schen Netzwerkes für diese Krankheite­n derzeit weltweit in Gefahr arbeitsunf­ähig, blind, entstellt zu werden oder zu sterben. Bis zu einer halben Million Menschen stirbt jedes Jahr an einer der Krankheite­n. Trotz dieser Zahlen glaubt Martin Kollmann, mit gemeinsame­r Anstrengun­g die Bedrohunge­n aufhalten zu können. »Es geht darum, die Übertragun­g zu unterbrech­en«, sagt der engagierte deutsche Mediziner, der in Nairobi lebt und in vielen afrikanisc­hen Ländern für die CBM tätig ist.

Das könne durch Operatione­n, Aufklärung, Antibiotik­avergaben und bessere Hygiene durchaus erreicht werden. Ziel sei es, das Trachom bis 2020 als öffentlich­es Gesundheit­sproblem weltweit zu besiegen. Es sei wie die anderen vernachläs­sigten Tropenkran­kheiten eine Armutsersc­heinung, begünstigt durch Wassermang­el, fehlende Toiletten, Bildungslü­cken und schlechte Infrastruk­tur. Wenn nicht mehr als zwei von 1000 Einwohnern am Trachom erkrankt sind, gelte die Krankheit nicht mehr als Bedrohung. »Wir werden erfolgreic­h sein, wir wissen es«, sagt Kollmann. In Oman und Marokko habe die Vorgehensw­eise bereits funktionie­rt. Die Länder seien trachomfre­i. Sicher könnte die äthiopisch­e Regierung bei der Bewältigun­g dieses Problems aktiver werden, anstatt sich auf der Arbeit und den Geldern der Hilfsorgan­isationen sowie ihrem guten Ruf als afrikanisc­hes Vorzeigela­nd, den auch deutsche Politiker gern mehren, auszuruhen. Doch das ist ein Eindruck, den die Mitarbeite­r der CBM so nicht teilen mögen. Sie wollen ihre gute Zusammenar­beit mit den Behörden vor Ort im Interesse der hilfsbedür­ftigen Menschen nicht gefährden.

Anprangern ließe sich indes einiges. Mitarbeite­r anderer in Äthiopien tätigen Hilfsorgan­isationen berichten von Telefonübe­rwachung, WhatsApp-Fotos können nicht verschickt werden und »Reporter ohne Grenzen« sehen in Sachen Informatio­nsfreiheit eine »schwierige Lage«. Der Fall des Bloggers Jomanex Kasaye bestätigt das. Er wollte Demonstrat­ionen und Versammlun­gen in Addis Abeba organisier­en und musste fliehen, um nicht wie zahlreiche seiner Mitstreite­r im Gefängnis zu landen, wo Folter droht.

In Elose Village bei Butajira wissen die meisten Familien nichts von diesen Dingen. Sie sind froh, dass sich jemand um die Kranken kümmert. Um die 100 Menschen haben sich in einem Gesundheit­szentrum versammelt, als die Abordnung des Hospitals aus Butajira mit ihren Autos eintrifft. Vorbei an einem mittelalte­rlich anmutenden Markt ging es über staubige Straßen, auf denen man vor allem Frauen mit Wasserkani­stern begegnete, kleinen Hütejungen mit ihren Ziegen. Oder Eseln, die anscheinen­d auch ohne menschlich­e Begleitung wissen, wohin sie die Säcke mit Khat oder Brennholz transporti­eren müssen. Bajajs – die typischen Dreiräder, die in Butajira als Taxis Menschen und Güter befördern – sieht man in dieser Gegend kaum noch. Wer von A nach B will, geht zu Fuß, egal wie weit der Weg auch sein mag, wie unbarmherz­ig die Sonne brennt, wie viel Straßensch­mutz in die Nase dringt. In diesem Dorf übernimmt Ophtalmic Nurse Sofia Muhammed die Aufklärung der Menschen über die Behandlung der blindmache­nden Augenkrank­heit. Unter ihren Patienten ist Alfia, Mutter von sieben Kindern; das älteste 18, das jüngste zwei Jahre alt.

Wegen Yetnuebers­htadese ist Alfia gekommen. Der Kleine hängt an ihrem Busen, er weint verzweifel­t und reibt sich die verklebten Augen, ohne dass dies die Fliegen auf seinen Lidern auch nur im mindesten erschrecke­n könnte. Alfia weiß, dass es sich bei ihrem Kind um die gefährlich­e Augenkrank­heit Trachom handelt. Sie weiß auch, dass die antibiotis­che Salbe, für die sie jetzt das Rezept in den Händen hält, die Rettung für das sich hin und her windende Baby sein kann. Lesen kann sie es nicht. Ihre Unterschri­ft leistet sie mit einem farbigen Daumenabdr­uck. Und schämt sich sehr dabei. Vorausgese­tzt, Yetnuebers­htadese steckt sich nicht immer wieder an, könnte ihn das Medikament vor dem erneuten Ausbruch der Krankheit und der drohenden Erblindung bewahren. Aber sicher ist das nicht. Auf die Frage, was sie sich für ihr Kind am allermeist­en wünsche, sagt Alfia ohne einen Augenblick zu überlegen: Bildung.

 ?? Alle Fotos: CBM/Thomas Einberger ?? Gizachew Abekes Vortrag über die Augenkrank­heit Trachom gleicht einer religiösen Zeremonie.
Alle Fotos: CBM/Thomas Einberger Gizachew Abekes Vortrag über die Augenkrank­heit Trachom gleicht einer religiösen Zeremonie.
 ??  ?? Kinder bekommen regelmäßig Antibiotik­a gegen Augeninfek­tionen.
Kinder bekommen regelmäßig Antibiotik­a gegen Augeninfek­tionen.
 ??  ?? Jeder neue Brunnen in der Gegend um Butajira ist ein Glück: Die Menschen können nicht nur trinken, sondern sich auch das Gesicht waschen (oben).
Jeder neue Brunnen in der Gegend um Butajira ist ein Glück: Die Menschen können nicht nur trinken, sondern sich auch das Gesicht waschen (oben).
 ??  ?? Bürgermeis­ter Worake Umer ist stolz auf den neuen Brunnen in seinem Dorf (unten).
Bürgermeis­ter Worake Umer ist stolz auf den neuen Brunnen in seinem Dorf (unten).
 ??  ?? Alfias jüngster Sohn ist am Trachom erkrankt und bekommt eine antibiotis­che Augensalbe verschrieb­en (links).
Alfias jüngster Sohn ist am Trachom erkrankt und bekommt eine antibiotis­che Augensalbe verschrieb­en (links).
 ??  ?? In den Dörfern sind die Kinder die Lehrer ihrer Eltern, denn sie lernen in der Schule lesen und schreiben (rechts).
In den Dörfern sind die Kinder die Lehrer ihrer Eltern, denn sie lernen in der Schule lesen und schreiben (rechts).
 ??  ?? Augenunter­suchung im Gesundheit­sposten Elose Village, einem muslimisch geprägten Dorf in der Nähe von Butajira (oben).
Augenunter­suchung im Gesundheit­sposten Elose Village, einem muslimisch geprägten Dorf in der Nähe von Butajira (oben).

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