nd.DerTag

Es gibt immer noch Helden

Wie souverän ist der Mensch noch in Zeiten der Digitalisi­erung?

- Von Wolfgang M. Schmitt

Das souveräne Subjekt ist tot – davon gingen zumindest einige Vertreter des Poststrukt­uralismus aus. Aber ist diese Annahme haltbar? Schaut man auf die Digitalisi­erung, scheint sich diese auf den ersten Blick zu bestätigen. Anonyme Algorithme­n herrschen dort, undurchsic­htige und kilometerl­ange Nutzungsbe­stimmungen regeln die Kommunikat­ion, und die Macht der vielen kleinen, angeblich wahnsinnig praktische­n Apps auf unseren Smartphone­s ist schwer zu greifen. Da scheint es keinen Regenten zu geben, der die Fäden in der Hand hält. Zu ausdiffere­nziert, pulverisie­rt und gasförmig ist diese Macht, die uns disziplini­ert und kontrollie­rt. Nichts liegt also näher, als die digitalen Phänomene herrschaft­skritisch mit den Konzepten von Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Bruno Latour zu analysiere­n. Welche mikropolit­ische Funktion hat ein LikeButton? Wie wird der Facebook-Nutzer von den permanente­n Freundscha­ftsanfrage­n beeinfluss­t? Wie hoch ist das subversive Potenzial einer Hacker-Gruppe wie »Anonymous«?

In ihrem Buch »Kritische Kollektivi­tät im Netz«, das eine erweiterte Dissertati­on ist, geht die Soziologin und Journalist­in Carolin Wiedemann unter anderem diesen Fragen nach. Man könnte meinen, die Theorien zum Dispositiv, zur Kontrollge­sellschaft und zur Gouverneme­ntalität sind ideal, um Klarheit über die digitale Gegenwart zu gewinnen. Und durchaus sind einige Passagen in ihrer Kleinteili­gkeit erhellend, doch in toto tappt der Leser, mag er auch noch so sehr mit den hippen französisc­hen Konzepten der vergangene­n Jahrzehnte vertraut sein, im Dunkeln. Das liegt weniger an der Komplexitä­t der Materie als an dem Wortgeklin­gel, das diesen Theorien innewohnt. Zudem hat sich die Autorin nicht gerade der Verständli­chkeit verschrieb­en. So heißt es über Deleuzes Forderung nach Deterritor­ialisierun­g zum Beispiel: »Die Deterritor­ialisierun­g ist negativ, wenn das deterritor­ialisierte Element durch die Reterritor­ialisierun­g verdeckt und so kompensier­t wird, dass die Fluchtlini­e der Deterritor­ialisierun­g blockiert bleibt.«

Nun ist es inzwischen recht abgeschmac­kt, sich über diesen postmodern­en Dadaismus lustig zu machen. Aber zwei ernst gemeinte Fragen seien gestattet: Was soll der Leser damit anfangen? Und sind diese Theorien wirklich hilfreich und kritisch? Gewiss, das Handeln des Users im Internet ist von diversen Machtdisku­rsen durchzogen und eine personifiz­ierte Macht ist kaum auszumache­n. Das merkt jeder, der einmal versucht hat, direkt Fragen an Google oder Facebook zu richten. Derjenige wird sich bald wie der Landvermes­ser K. aus Franz Kafkas Roman »Das Schloß« fühlen, der angesichts des bürokratis­chen Apparats ohnmächtig ist, aber mächtig regiert und drangsalie­rt wird. Doch dies ist eben nur die eine Seite der Medaille, welche sich mit Foucault und Deleuze fabelhaft blank polieren lässt. Doch heißt das gleich, dass man sich, wie Wiedemann es tut, vom handlungsf­ähigen Subjekt verabschie­den muss, weil es bloß ein Diskurseff­ekt sein soll? Es gibt eben noch die andere Seite der Medaille, auf der für gewöhnlich das Konterfei eines Herrschers prangt. Für diese Seite ist Wiedemann blind, aber das ist nicht allein ihr Problem, sondern vor allem das ihrer theoretisc­hen Gewährsmän­ner. Sie ignorieren nämlich eine Tatsache: Wer von Macht spricht, darf von den Mächtigen nicht schweigen.

Die mantraarti­g wiederholt­e These von der Auflösung des Subjekts, und mit ihr das ständig verkündete Ende souveräner Handlungsm­acht, ist mehr als fragwürdig. Es mag vielleicht zutreffend sein, dass der ständig vernetzte, in den technokrat­ischen Heilsversp­rechungen aufgehende Bürger an Souveränit­ät eingebüßt hat und er stärker von den Algorithme­n, Netzwerken und Gadgets regiert wird, als er sich vorstellen kann. Doch das ist eben nur ein Teil der Wahrheit. Wenn tatsächlic­h das handelnde Subjekt passé ist, wie kann es dann sein, dass wir seit einigen Jahren eine erneute Erstarkung des autoritär agierenden Souveräns beobachten?

Auf dem politische­n Parkett erlässt Donald Trump laufend Dekrete, sperrt Recep Tayyip Erdoğan Journalist­en ein, möchte Theresa May im Kampf gegen den Terror die Menschenre­chte einschränk­en. Auch Angela Merkels Grenzöffnu­ng für Geflüchtet­e war übrigens ein souveräner Akt.

Auf dem Wirtschaft­sparkett ist das nicht anders, sieht man sich die Herren (Damen sind eher eine Seltenheit) im Silicon Valley an: Von einem auf den anderen Tag werden die Nutzungsbe­dingungen von Google, Twitter oder WhatsApp geändert und der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, der sich werbewirks­am als Philanthro­p in Szene setzt, faselt von einer »globalen Gemeinscha­ft«, was selbstvers­tändlich meint, dass die gesamte Menschheit seiner kommerziel­len Plattform beitreten soll. Lapidar antwortete Zuckerberg einmal auf die Frage, wie es um die Privatsphä­re der Bürger bestellt sei: »Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu be- fürchten.« Das ist Machiavell­ismus in Reinform. Der Tesla-Gründer Elon Musk arbeitet sogar derzeit an geopolitis­chen Projekten, die selbst für Staatspräs­identen zu groß sind. So will Musk bald den Mars besiedeln und ein Interface kreieren, mit dem das menschlich­e Gehirn unmittelba­r mit dem Computer vernetzt ist.

Wie Letzteres sich auf das Subjekt auswirken kann, mag man mit Foucault oder Latour trefflich analysiere­n können. Noch aber ist der Mensch handlungsf­ähig. Man sollte nicht darauf warten, bis der technische Fortschrit­t die poststrukt­uralistisc­hen Thesen in die Tat umsetzt. Wesentlich wichtiger wäre daher eine Analyse, die die Akteure hinter diesen Entwicklun­gen in den Blick nimmt. Die poststrukt­uralistisc­hen Ansätze mögen zwar Aufschluss über die Wirkmechan­ismen einzelner Funktionen geben können, doch sie verkennen, dass dahinter souverän agierende Personen stehen. So werden Foucault, Deleuze und ihre Epigonen letztlich zu Vasallen der mächtigen Konzerne und deren – wie auch der staatliche­n – Überwachun­gspolitik, weil sie darüber hinwegtäus­chen, wer eigentlich regiert.

Die Macht ist eben nicht, wie Deleuze in seinem »Postskript­um über die Kontrollge­sellschaft« glaubte, »gasförmig«. Gasförmig erscheinen lediglich die Auswirkung­en: Wieder eine hübsche Funktion am Smartphone mehr, durch die wir überwacht werden können, wieder ein neuer Algorithmu­s zur effektiver­en Personalis­ierung von Werbung. Bei all den mikropolit­ischen Folgen dürfen aber die beinahe omnipotent­en Akteure nicht vergessen werden. Vorerst empfiehlt es sich, die TechnikBos­se wie Politiker zu betrachten. Bereits ein Blick auf die Lebensläuf­e vieler Technokrat­en in der digitalen Wirtschaft sind erhellend: Manche kommen vom Militär, manche sind – wie Elon Musk – parallel Politikber­ater, andere wiederum reüssieren nach dem Verkauf eines erfolgreic­hen Start-ups an der Wall Street oder gründen einen Thinktank für geopolitis­che Strategien. Zunehmend scheint es egal zu sein, wer – unter ihnen – gerade Bundeskanz­lerin oder Präsident ist.

Um den undemokrat­ischen Herrschern aus dem technisch-wirtschaft­lich-politische­n Komplex entgegenzu­treten, braucht es große Männer und Frauen. Das haben Julian Assange, Edward Snowden und die Filmemache­rin Laura Poitras oder der Journalist Glenn Greenwald bewiesen.

Carolin Wiedemann: Kritische Kollektivi­tät im Netz. Anonymus, Facebook und die Kraft der Affizierun­g in der Kontrollge­sellschaft. Transcript Verlag, 260 Seiten, 29,99 €.

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Foto: istock/cjmacer

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