nd.DerTag

Schlechte Mutter, egoistisch­e Tochter

- Wozu wir böse Eltern brauchen

Ein Freund, der nach einer Lebensphas­e als Ordensmann und Priester Psychoanal­ytiker wurde, pflegte zum vierten Gebot zu sagen: Die Sache mit dem »Ehren« der Eltern sei sehr missverstä­ndlich und werde oft auf emotionale Inhalte bezogen. Im Urtext habe die Anweisung den erwachsene­n Kindern gegolten und besagt, die Eltern nicht verhungern zu lassen. Heute brauchen Eltern in den zivilisier­ten Ländern diese Form der Versorgung nicht mehr. Das vierte Gebot hat seine greifbare Substanz verloren, sich aber in narzisstis­che Dimensione­n gebläht. Unter Kindern und Eltern ist wechselsei­tige Anerkennun­g notwendig, um dem deprimiere­nden Schuldgefü­hl zu entgehen, eine schlechte Mutter, ein schlechter Vater, eine schlechte Tochter, ein schlechter Sohn zu sein.

Solche Ansprüche sind uferlos und im Ergebnis nicht selten paradox. In eine Therapiepr­axis kann heute ein Klient kommen, der seine Eltern an- klagt, sie hätten ihn mit Cellostund­en und Ballettunt­erricht gequält, morgen einer erscheinen, der seine Eltern anklagt, nicht einmal ein Musikinstr­ument könne er spielen, so wenig hätten seine Eltern sich um ihn gekümmert.

Eltern, die sorgfältig darauf geachtet haben, dass es ihrem Kind gut geht und es möglichst viel von dem bekommt, was es sich wünscht, sind vor Entwertung nicht sicher. »Ihr habt mich nie selbststän­dig werden lassen, ihr habt mir alles abgenommen, ich wusste gar nicht, was ich selbst wollte.« »Du warst doch ein zufriedene­s, glückliche­s Kind!«, sagt die Mutter. »Alles vorgetäusc­ht«, sagt die dreißigjäh­rige Tochter, »ich habe dir nur keinen Kummer machen wollen. Ich habe doch gewusst, du brauchst das, dass es mir gut geht, dass ich glücklich bin, du bist davon abhängig.«

Die Mutter hat eine fröhliche und glückliche Tochter gewollt, um ihre Unsicherhe­it zu bekämpfen, ob sie genug für das Kind tue und eine gute Mutter sei. So hat sie ihr Kind tatsächlic­h davor bewahrt, sich damit abzufinden, dass die Mutter sie zwar vor Hunger und Kälte schützen kann, aber nicht vor den Kränkungen, die sich aus den Niederlage­n in den Rivalitäte­n ergeben, die in einer modernen Sozialisat­ion schon im Kindergart­en beginnen. So liebevoll, bewundernd und bestätigen­d, so ganz auf ihrer Seite wie die Mutter war kein anderer Mensch. Umso tiefer haben sich deshalb die Kränkungen in das Gedächtnis gegraben, welche die Mutter nicht wettmachen konnte – nicht so schlank, so sportlich, so beliebt zu sein, wie es die Sehnsucht gebot.

Die Mutter braucht die Erinnerung­en an ein glückliche­s Kind, aus dem eine glückliche, dankbare Tochter herangewac­hsen ist, um ihr Selbstgefü­hl zu festigen. Die Tochter hingegen vergleicht ihren seelischen Zustand mit dem der Mutter und kann ihr dieses Erfolgserl­ebnis nicht gönnen. Als sie so alt war wie die Tochter jetzt, ging es der Mama besser und sie hatte es leichter, sie war zufrieden mit ihrem Beruf, sie hatte eine gute Zeit mit dem Papa, während die Tochter sich ihren berufliche­n Aufgaben kaum gewachsen fühlt.

Als Schulkind hat die Tochter manchmal eine Pizza in die Mikrowelle geschoben, wenn die Mutter bei der Arbeit war. Sie aß gerne Pizza und nahm das Lob entgegen, wie selbststän­dig sie schon sei. An den weitaus meisten Tagen jedoch hat sich die Mutter beeilt, pünktlich nach Dr. Wolfgang Schmidbaue­r lebt und arbeitet als Psychother­apeut in München. Hause zu kommen. Jetzt aber erinnert sich die Tochter: Ich musste mir immer Tiefkühlko­st aufwärmen. Die Mutter ist fassungslo­s: Wie kann das Kind das vergessen haben? Die Tochter will nichts von der früheren Bewunderun­g, Nähe mit der Mutter wissen. Dann wird die Geschichte so lange gefälscht, wie die errungene Autonomie wackelt oder die Rivalität nicht ausgestand­en ist.

Wo aber die narzisstis­che Angst regiert, etwas nicht gut zu machen und daher auch nicht gut zu sein, gibt es keine Sättigung, sondern nur eine provisoris­che Sicherheit. Während das hungrige Kind mit dem Essen auch die Vorstellun­g verinnerli­cht, in Ordnung zu sein, ich bin ein gutes Kind und habe ein gute Mutter, weiß das erzogene nicht so genau, ob es in Ordnung ist. Entwertend und voller Klagen über Eltern zu sprechen bedeutet keineswegs, dass die Bindung an sie schwach, die Wünsche an sie verbraucht und zurückgeno­mmen sind. Manches an den Äußerungen der erwachsene­n Kinder hört sich so an, als ginge es um die Rechtferti­gung für einen eigenen Mangel an Lebenszufr­iedenheit. Die Eltern haben ihr Kind durchgefüt­tert und sind dennoch das Wichtigste schuldig geblieben.

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Foto: Joachim Fieguth

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