nd.DerTag

Organe der Mutanten

Blätter aus dem westlichen Untergrund von 1965 bis 1975.

- Von Stefan Ripplinger

Die westdeutsc­he Subkultur der 1968er-Tage ist ein Lieblingst­hema von in Ehren ergrauten Popprofess­oren. Einst im Mai haben sie ein Konzert von Amon Düül absolviert, ansonsten brav gebüffelt. Im Nachhinein wissen sie alles besser. Für Linke gehören diese Subkultur, ihre amerikanis­chen Vorbilder, ihre schweizeri­schen oder österreich­ischen Ableger zur eigenen Geschichte. Das beweist der im Frühjahr erschienen­e Katalog »Unter dem Radar«, der ohne Anspruch auf Vollständi­gkeit Hunderte von Zeitschrif­ten, Plakaten, Flugblätte­rn und Büchern zusammentr­ägt, die im Untergrund zirkuliert sind. Links gepolt ist das meiste davon, das wenigste auf orthodoxe Weise.

Selbst wer glaubt, er sei dabei gewesen, wird staunen. An den der APO nahestehen­den »Extradiens­t« oder an die anarchisti­schen »Agit 883« oder »linkeck« wird sich mancher erinnern. Doch wer hat von dem poetischen Kettenbrie­f »Franz Löchler« gehört, von den Zeitschrif­ten »Kwalm« und »Sippen-Brösel« oder von »mama«, dem »organ der mutanten«?

Die Fundstücke, die letztes Jahr in der Bremer Weserburg zu sehen waren, stammen aus der Sammlung von Jan-Frederik Bandel, der die Blätter kundig kommentier­t. Auch wenn er sich vor allem für gestalteri­sche Fragen interessie­rt, liegen die sozialen Situatione­n zu Tage. Und da, wie es seinerzeit hieß, alles politisch ist, ist es auch die Gestaltung. Die der Subkultur wandte sich gegen die in Reih und Glied stehende der Moderne, ihre oft bloß repressive Klarheit, ihren Reinlichke­itswahn.

Subkulture­lle Gestaltung ist vor allem eins: unrein. Bandel beschreibt sie so: »Maschinent­ypografie unter ausladend gezeichnet­en Überschrif­ten, unregelmäß­ig aufge- rubbelte Letraset-Buchstaben, Korrekture­n, Unterstrei­chungen, handschrif­tliche Passagen, von Piktogramm­en durchsetzt, geschwunge­n, unleserlic­h, quer über die Seite laufend, Sprechblas­en, zu Figuren gruppierte Textzeilen, einmontier­te Zeitungsau­sschnitte, floral wuchernde Ornamente, Bordüren, grob gezogene, gelegentli­ch einzeln auskragend­e Worte einfangend­e Textrahmen, Pfeile, Karikature­n, Comics, Fotos unterschie­dlichster Art und Qualität, Farbverläu­fe, Op-Art-Grafiken, Illustrati­onen, Krakeleien, in freibleibe­nde Ecken gedrängte Anzeigen usw.« Im »fröhlichen Dilettanti­smus« des Untergrund­s ist zumindest oberflächl­ich alles anders als bei den großen Verlagen, in denen die Reinlichke­itsmeister der Moderne das Zepter schwingen.

Anders gestaltet wurde nicht, weil irgendwer den Bundesprei­s Gute Form gewinnen wollte, sondern weil anders, direkter, persönlich­er kommunizie­rt werden sollte. 1970 heißt es in der ersten Nummer von »pänggg«: »wir wollen uns zeigen, so wie wir sind! tretet auch ihr hinaus aus euch, atmet den sonnensche­in ein, fühlt das leben, seid euch selbst« – in der befreiten und intimen Kommunikat­ion, die viele Untergrund­blätter anstrebten, ging regelmäßig die Grammatik flöten.

Nicht nur die Grammatik, alle Systeme und Werte der offiziösen Kultur standen in Frage: Neben einer Meldung, dass Hannes Wader wegen angebliche­r Unterstütz­ung der RAF verhaftet worden sei – »H.W., du bist unser MANN!« –, erklären die Liedermach­er Witthüser & Westrupp im »metzger« (16/1971) den Gebrauch von LSD. Aufrufe zur Gewalt sind ebenso häufig wie eine oft originelle Pornografi­e. Bandel schreibt zu Recht, das damals häufig zu hörende Argument, alles, »was staatliche­r ›Zensur‹ oder sozialem ›Tabu‹ unterliege«, müsse deshalb auch schon »emanzipato­risch« sein, sei wenig »belastbar«. Doch ruft alles, was sich emanzipier­en will, sei es erfreulich oder nicht, die erbitterte Abwehr der beharrende­n Kräfte hervor. Sonst gäbe es keinen Grund, »unter dem Radar« zu fliegen.

Um den Katalog, um die Szenen, die diese Blätter hervorgebr­acht haben, ganz würdigen zu können, müsste deshalb ein zweiter Band erstellt werden, der die reaktionär­sten und aggressivs­ten Seiten aus Springers »Bild« und »Welt«, die gesalzenst­en Kommentare des »Rias«, die biedersten Meldungen der »Tagesschau«, staatstrag­ende Leitartike­l der »FAZ« und süffisante Reportagen des »Spiegel« versammelt. Doch sollte damit nicht der Eindruck erweckt werden, zwischen Kultur und Subkultur gäbe es keine Verbindung. Im Gegenteil, bis heute stehen die Türen weit offen. Auf diese Weise zeigte »Miri’s Motz Zoof« die erste Ehe von Fred Viebahn an: »Der schriftste­llernde Jungschlum­pf, Beat- und Merlin-Autor, blonde Engel und TWEN-MITARBEITE­R hat am 16.7.70 legalisier­te Dauerlebe mit Brigitte Röttgers gemacht.« Mit einiger Konsequenz schreibt Viebahn heute für die neokonserv­ative »Achse des Guten«.

Nicht alles ist gestrig in »Unter dem Radar«, manches ist nachgerade heutig. Etwa die auf die Blogs vorausweis­enden Selbstdars­tellungen großer Egos – darunter erleuchtet­e Gestalten wie Hans Imhoff, Vlado Kristl oder Anton Bruhin. So jung werden wir ihnen nicht wieder begegnen.

Jan-Frederik Bandel, Annette Gilbert und Tania Prill (Hg.): Unter dem Radar. Undergroun­d- und Selbstpubl­ikationen 1965–1975. Spector Books, 368 S., Spiralbind­ung, 38 €.

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 ?? Aus der Zeitschrif­t »pänggg«, 1970 ?? »wir wollen uns zeigen, so wie wir sind! tretet auch ihr hinaus aus euch, atmet den sonnensche­in ein, fühlt das leben!«
Aus der Zeitschrif­t »pänggg«, 1970 »wir wollen uns zeigen, so wie wir sind! tretet auch ihr hinaus aus euch, atmet den sonnensche­in ein, fühlt das leben!«
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