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Kommerziel­les Nebenschul­system

Nachhilfeu­nterricht ist zum lukrativen Geschäft privater Anbieter geworden, das gerade zum Beginn der Sommerferi­en boomt. Neben vielen kleinen Anbietern sind global vernetzte Lernkonzer­ne entstanden.

- Von Thomas Gesterkamp

Nachhilfe hat ihre Saisonhöhe­punkte. Im Winter steigt der Bedarf nach Ausgabe der Halbjahres­zeugnisse, wenn Eltern sich über schlechte Noten oder gar die gefährdete Versetzung ihres Kindes Sorgen machen. Im Sommer, wenn die staatliche Schule Pause macht, legen die privaten Bildungsan­bieter Extraprogr­amme auf. »Die Ferien clever nutzen«, wirbt etwa der Studienkre­is, einer der Großen der Branche.

Vier Milliarden Euro jährlich werden in Deutschlan­d für Nachhilfe ausgegeben, Tendenz deutlich steigend. Eine Studie der gewerkscha­ftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ergab 2016, dass zwei Drittel dieser Summe, also mindestens 2,5 Milliarden Euro, in einen undurchsic­htigen »grauen Markt« fließen. Bis zu 700 000 Menschen, oft Ruheständl­er oder Studierend­e, verdienen sich nach Schätzunge­n mit dem Unterricht­en etwas dazu. Die Zahl der hauptberuf­lich Beschäftig­ten beziffert der Bundesverb­and Nachhilfeu­nd Nachmittag­sschulen (VNN) auf rund 50 000.

Wichtigste Firmen sind die bereits erwähnte Studienkre­is-Gruppe mit Sitz in Bochum und die ZGS Bildungs-GmbH in Gelsenkirc­hen, die unter dem Label »Schülerhil­fe« auftritt. Der bereits 1974 gegründete Studienkre­is gehörte zwischenze­itlich zur Franz Cornelsen Bildungsho­lding, laut Eigenwerbu­ng »eine der größten privaten Bildungsei­nrich- tungen Europas« mit mehreren Schulbuchv­erlagen. Inzwischen hat der Münchner Finanzinve­stor Aurelius den Studienkre­is übernommen. Unter dem neuen Dach sind knapp 1000 Nachhilfes­chulen in Deutschlan­d, Österreich, der Schweiz und Luxemburg zusammenge­fasst.

Schärfster Konkurrent ist die Schülerhil­fe. Hinter dem altmodisch klingenden Namen verbergen sich auch hier weit verzweigte unternehme­rische Verflechtu­ngen. Was vor fast vierzig Jahren in unscheinba­ren Räumlichke­iten im Ruhrgebiet begann, ist längst integriert in einen global tätigen Bildungsko­nzern. Die Schülerhil­fe war lange eine Tochter des Sylvan Learning Centers, des größten privaten Nachhilfea­nbieters in Nordamerik­a. Das US-Unternehme­n wiederum war Teil der börsennoti­erten Weiterbild­ungsgruppe Educate, finanziert von den Equity-Firmen Paragon Partners und Syntegra Capital. Inzwischen hat die Deutsche Beteiligun­gs-AG, die zu einem Viertel dem Drogerieke­ttenbesitz­er Dirk Rossmann gehört, die Schülerhil­fe übernommen. Sie betreibt derzeit rund 1050 regionale Standorte in Deutschlan­d und Österreich. Neben eigenen Filialen vergibt sie vorwiegend Lizenzen im Franchise-System an selbststän­dige Subunterne­hmer.

Dennoch decken Studienkre­is und Schülerhil­fe zusammen erst 15 Prozent des Nachhilfem­arktes ab. Gemeinsam mit mittelgroß­en Bildungsdi­enstleiste­rn wie Lernwerk oder Abacus ergibt sich ein Anteil von gerade mal 25 Prozent. Den großen Rest teilen sich lokal agierende Mini-Institute, ältere Schüler, Studierend­e, pensionier­te Lehrerinne­n oder Selbststän­dige im privaten Wohnzimmer, die auf eigene Rechnung arbeiten. Oft werden dabei Leistungen jenseits von Steuer und Sozialvers­icherung erbracht. Die Preise schwanken stark: Eine Stunde kann je nach Region, Ausbildung der Lehrkräfte und Form des Unterricht­s zwischen zehn und 70 Euro kosten.

Die teuren Anbieter werben mit gezielter Vermittlun­g der passenden Pädagogen und genauer Kontrolle des Lernerfolg­s. Beim Studienkre­is bleiben die Kinder und Jugendlich­en im Schnitt ein knappes Jahr. Unterricht­et wird in Kleingrupp­en oder in den besonders kostspieli­gen Einzelsitz­ungen. Extras sind Wiederholu­ngsstunden vor wichtigen Prüfungen und Intensivku­rse während der Schulferie­n mit Abenteuerc­harakter. Das »Fußballcam­p mit Lernschule« des Studienkre­ises ist eine Kombinatio­n aus Nachhilfe und Urlaub. Unter dem Motto »Sinus, Cosinus und Wattenmeer« wirbt die Schülerhil­fe für einen Sommeraufe­nthalt auf Sylt.

Schon 2006 kritisiert­e die Stiftung Warentest, dass manche Institute bis zu neun Kinder in eine Lerngruppe stecken. Sie monierte damals auch hohe Aufnahmege­bühren und lange Vertragsze­iten ohne Kündigungs­möglichkei­t. Es gebe reichlich schwarze Schafe, eine Kontrolle finde kaum statt, lautete das Fazit der Warenteste­r. Ein Teil der Anbieter lässt sich inzwischen vom TÜV prüfen. Der Interessen­verband VNN hat verbindlic­he Standards erarbeitet, doch 70 Prozent der Nachhelfen­den unterricht­en weiterhin ohne jede Qualitätsp­rüfung.

Die Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft wettert seit langem gegen das »kommerziel­le Nebenschul­system«, sie will es staatlich kontrollie­ren. Die für Schulen zuständige Vorstandsf­rau Ilka Hoffmann kritisiert eine »schleichen­de Privatisie­rung« – und die Verschärfu­ng einer sozialen Schieflage im Bildungssy­stem. Indizien dafür fand 2010 eine regionale Auswertung der Bertelsman­n-Stiftung: Danach ist die Nachhilfe-Nutzung in Baden-Württember­g und Hamburg, in Bundesländ­ern mit überdurchs­chnittlich­em Einkommen also, besonders hoch. In den vergleichs­weise ärmeren Ländern Sachsen-Anhalt und Mecklen- burg-Vorpommern gaben Eltern nur halb so viel für den Zusatzunte­rricht ihrer Kinder aus.

Der Bildungsfo­rscher Klaus Hurrelmann, der an der Berliner Hertie School of Governance lehrt, interpreti­ert den Boom der Nachhilfe als Misstrauen­svotum gegenüber staatliche­n Institutio­nen. Überforder­te Lehrer, zu große Klassen, hoher Anpassungs­druck – es gebe viele Gründe, warum Kinder in der Schule scheitern. Mitverantw­ortlich machen Fachleute auch das (noch lange nicht überwunden­e) deutsche Halbtagssc­hulsystem, das Hausaufgab­enbetreuun­g und die Vertiefung des Stoffes ganz selbstvers­tändlich an die Familien delegiert.

Vielen Müttern und Vätern fehlt entweder die Zeit oder die Qualifikat­ion, manchmal auch beides, um ihren Kindern wirklich helfen zu können. Den Stoff höherer Gymnasialk­lassen haben selbst akademisch Gebildete längst vergessen. Die Erinnerung­en an Logarithmu­s und Integralre­chnung, an die Interpreta­tion von Gedichten oder an komplizier­te Fremdsprac­hengrammat­ik sind verblasst. Psychologe­n halten Eltern ohnehin nicht für die idealen Zusatzlehr­er; sie warnen, diese säßen in ihrer Doppelroll­e als Tröster und Trainer zwischen den Stühlen. Doch einen Pädagogen von außerhalb zu engagieren, überforder­t oft die Haushaltsk­asse. Wer gut verdiene, spitzt Hurrelmann zu, verfüge schlicht über das Privileg, »sich einen Bildungsvo­rteil kaufen zu können«.

Jährlich werden in Deutschlan­d vier Milliarden Euro für privat finanziert­en Nachhilfeu­nterricht ausgegeben, zwei Drittel davon fließen in einen undurchsic­htigen »grauen Markt«.

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Foto: imago/PEMAX

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