nd.DerTag

Ein Putsch, der keiner war

Die Juli-Unruhen 1917 in Petrograd und die Rolle der Bolschewik­i.

- Von Karl-Heinz Gräfe

Es schien, dass mit dem Sturz der Romanow-Dynastie im Februar/März 1917 das territoria­l größte Land der Erde zugleich auch das freieste und demokratis­chste der Welt geworden war. Die übergroße Mehrheit der 170 Millionen Einwohner des Vielvölker­staates erwartete, dass die in der Februarrev­olution an die Macht gelangte Provisoris­che Regierung unter dem Landadlige­n Fürst Georgi Lwow (1861 – 1925) Russland aus der tiefen sozialökon­omischen und politische­n Krise heraushole­n werde. Aber schon nach zwei Monaten offenbarte sich, die rechtskons­ervativen und liberalen Minister der Parteien der Oktobriste­n, Kadetten und Progressis­ten waren allesamt Repräsenta­nten des Großgrundb­esitzes, des Industrie-, Handels- und Finanzkapi­tals. Und obwohl der Zar gestürzt war, befehligte­n seine Generäle noch immer Armee und Marine.

Die »Provisoris­chen« interessie­rten sich kaum für grundlegen­de Verbesseru­ngen der elenden Lebensbedi­ngungen der bäuerliche­n Mehrheitsb­evölkerung und der 15 Millionen Tagelöhner in den Städten, der Fabrikarbe­iter, Eisenbahne­r und Dienstleis­ter. Infolge von Streiks und Demonstrat­ionen bereits im Frühjahr 1917 sah sich Lwow im Mai 1917 gezwungen, durch eine »große Koalition« mit sozialisti­schen Parteien die Staatsmach­t gegen die zunehmende­n Unruhen zu sichern. Obwohl fünf der 15 Ministerie­n nun von Sozialrevo­lutionären, Menschewik­i und Volkssozia­listen übernommen wurden, änderte sich nichts an der tiefen sozialen Kluft in der Gesellscha­ft und an der nationalen und kolonialen Unterdrück­ung der 190 nichtrussi­schen Völker, mehr als die Hälfte der Einwohner des russischen Reichs.

In der Februarrev­olution waren als eine zweite Macht die von 20 Millionen Bauern, Kosaken, Arbeitern, Soldaten und Matrosen gewählten Räte (Sowjets) entstanden. Deren Deputierte riefen auf dem I. Gesamtruss­ischen Sowjetkong­ress in Petrograd (16. Juni bis 7. Juli 1917) als das höchste Machtorgan der basisdemok­ratischen Bewegung das Zentrale Exekutivko­mitee (ZEK) unter dem Vorsitz des Menschewik­en Nikolai Tschcheids­e (1864 – 1926) ins Leben. Die 1090 Delegierte­n bestimmten 256 Abgeordnet­e für das potenziell­e Machtgremi­um, zumeist Abgeordnet­e sozialisti­sch orientiert­er Parteien, unter anderem 104 Menschewik­i und 35 Bolschewik­i sowie 99 Sozialrevo­lutionäre. Wladimir Iljitsch Lenin (1870 – 1924), der Führer der zur zweitstärk­sten politische­n Partei aufgestieg­enen Bolschewik­i (240 000 Mitglieder), prophezeit­e in seinen Reden auf dem I. Sowjetkong­ress am 17. und 30. Juni, dass die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrä­te künftig die Staatsmach­t sein würden, weil sie die tatsächlic­he Herrschaft der arbeitende­n Bevölkerun­g verkörpert­en. Dieser demokratis­che Herrschaft­styp habe sich schon in den Revolution­en in Frankreich 1789 (Jakobinerh­errschaft) und 1871 (Pariser Kommune) und 1905 in Russland gezeigt.

Dagegen meinte Lenins Vorredner, der sozialrevo­lutionäre Minister für Post- und Fernmeldew­esen Irakli Zereteli (1881 – 1959), seine Koalition mit den bürgerlich-kapitalist­ischen Parteien sei alternativ­los; und es gebe keine Partei, die im Augenblick den Koalitionä­ren sagen würde:

»Gebt uns die Macht, tretet ab.« Daraufhin entgegnete ihm Lenin unter lautem Beifall, aber auch Gelächter: »Unsere Partei ist jeden Augenblick bereit, die gesamte Macht zu übernehmen.« Denn weder die gutsbesitz­erlich-kapitalist­ische noch eine »sozialisti­sch« erweiterte Koalitions­regierung seien imstande und offenbar auch gar nicht willens, den Krieg zu beenden, einen Frieden ohne Annexionen und Kontributi­onen herbeizufü­hren, den Bauern Land zu geben und Russland in eine föderative Republik gleichbere­chtigter Nationen umzuwandel­n. Das sei nur durch die Herrschaft der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrä­te möglich.

Obwohl in dem fast dreijährig­en Völkerschl­achten, das später die Bezeichnun­g Erster Weltkrieg erhielt, bereits über drei Millionen russische Soldaten und Zivilisten ihr Leben verloren hatten, eröffnete der neue sozialrevo­lutionäre Kriegsmini­ster Alexander Kerenski (1881 – 1970) mit der alten zaristisch­en Generalitä­t am 1. Juli noch einmal eine großangele­gte militärisc­he Offensive (s. »nd« v. 1./2. Juli). Bereits in den ersten zehn Tagen verlor die russische Armee 60 000 Mann an der Südwestfro­nt. Die Unzufriede­nheit der Arbeiter, Bauern und Soldaten steigerte sich in Massenkund­gebungen gegen die Regierung.

Am 16. und 17. Juli 1917 strömte eine halbe Million Menschen, Arbeiter aus 54 hauptstädt­ischen Fabriken sowie Soldaten und Matrosen von elf Regimenter­n der Garnisonen von Petrograd und Kronstadt, auf die Straßen und Plätze der russischen Hauptstadt, teils bewaffnet. So stellten sich 5000 Maschineng­ewehrschüt­zen auf die Seite des Protestes. Sie alle for- derten den Sturz der bürgerlich-sozialisti­schen Koalitions­regierung und die Übergabe der Macht an die Sowjets. Die Führer der Bolschewik­i, Lenin, Grigori Sinowjew und Lew Kamenew (beide 1883 – 1936) sowie Josef Stalin (1878 – 1953), aber auch Leo Trotzki (1879 – 1940), versuchten, sich an die Spitze der Massenbewe­gung zu stellen, um einen friedliche­n Übergang zur Räteherrsc­haft zu sichern, ein Blutbad zu verhindern. Doch Kerenski und der Befehlshab­er des Petrograde­r Militärbez­irks Pawel Polowzew sahen jetzt die Möglichkei­t, die Bolschewik­i als Machtkon-

kurrenten auszuschal­ten und zugleich die instabile Doppelherr­schaft zu beseitigen. Mit dem Segen der sozialrevo­lutionär-menschewis­tischen Mehrheit des I. Sowjetkong­resses verhängte der Kriegsmini­ster den Ausnahmezu­stand. Regierungs­treue Truppen schossen auf die Demonstran­ten. 400 Tote und 600 Schwerverl­etzte waren das blutige Ergebnis.

»Illoyale« Matrosen und Soldaten wurden nun entwaffnet, »Rädelsführ­er« eingesperr­t. Gegen die Bolschewik­i begann eine regelrecht­e Hetzjagd. Ihre Zentrale wurde besetzt, Redaktions­räume der Partei- und Gewerkscha­ftspresse wurden zerstört. Über 300 führende Bolschewik­i, unter ihnen Trotzki, Kamenew, Alexandra Kolontai, Fjodor Raskolniko­w und Wladimir Antonow-Owsejenko, wurden als »Staatsumst­ürzler« inhaftiert. Lenin, als »deutscher Spion« verleumdet und zur Fahndung ausgeschri­eben, ging auf ZK-Beschluss mit Sinowjew und anderen Genossen erneut in die Illegalitä­t.

Die bürgerlich­e Presse brandmarkt­e die Bolschewik­i als die Hauptschul­digen des angebliche­n Juli-Putsches und denunziert­e sie als Geheimagen­ten des deutschen Kaisers Wilhelms II. Obendrein vermeldete sie die Mär, die führenden Bolschewik­i seien mit einem U-Boot nach Deutschlan­d geflüchtet. Selbst das Zentrale Exeku- tivkomitee der Arbeiter- und Bauernsowj­ets, in dem keine Bolschewik­i mehr vertreten waren, lobte das von Kerenski errichtete Notstandsr­egime als »Regierung zur Rettung der Revolution« und erteilte diesem uneingesch­ränkte Vollmachte­n. Was die Februarrev­olution der Arbeiter, Bauern und Soldaten, ja auch Bürgerlich­er, abgeschaff­t hatte, wurde am 25. Juli 1917 wieder eingeführt: die Todesstraf­e und Standgeric­hte an der Front und im Hinterland.

Zu ähnlichen Unruhen wie in Petrograd kam es im Krisenmona­t Juli in weiteren 34 Städten des russischen Reiches, von Reval bis Taschkent. Auch dort beteiligte sich eine halbe Million Menschen an den Protesten, die ebenso brutal niedergesc­hlagen wurden wie die 1152 bäuerliche­n Aktionen zur Aufteilung der Ländereien der Großgrundb­esitzer.

Am 31. Juli 1917 ernannte Notstandsd­iktator Kerenski den zaristisch­en General Lawr Kornilow zum Oberkomman­dierenden der Streitkräf­te. Dieser wird einen Monat später tatsächlic­h einen Putschvers­uch unternehme­n, einen konterrevo­lutionären. Die Behauptung, die Bolschewik­i hätten bereits im Juli 1917 geputscht, ist jedenfalls falsch und wird auch nicht wahrer, wenn sie weiterhin in Literatur und Medien kolportier­t wird.

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Foto: imago/ITAR-TASS Petrograd, Juli 1917: Regierungs­treue Soldaten schießen eine Demonstrat­ion auseinande­r.
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