Salat mit Zucker, bis es ordentlich »krisselt« im Mund
Die Österreicherin Anna Wiesmayr zählt zu den ältesten Menschen Mitteleuropas und winkte noch Kaiser Franz Joseph zu. Am 23. Juli wird sie 109 Jahre alt. Ihr Geheimnis für ein langes Leben klingt dabei so gar nicht vernünftig.
Langsam fangen die Wehwehchen an, sagt Anna Wiesmayr mit 108 Jahren. Obwohl sie sehr schlecht sieht, erkennt Wiesmayr beim Besuch sofort ihren Sohn Rudolf. Ihr Händedruck ist fest und ihre Augen leuchten. Da sie fast nichts mehr hören kann, dient ein weißes A4-Blatt mit riesigen Buchstaben und Ziffern als Kommunikationshilfe.
»Juhuuuuu«, jubelt Wiesmayr laut und streckt blitzschnell die rechte Hand in die Höhe, als sie die Zahl »109« ganz ohne Sehbehelf entziffern kann. Als Rudolf ihr Fotos von ihren Eltern zeigt, beginnt sie zu seufzen: »Der Vater! Die Mutter!«
Geboren wurde Wiesmayr am 23. Juli 1908 in einem Wohnhaus in der Linzer Franckstraße als Anna Waldhör und ist damit nicht nur eine der ältesten Frauen Österreichs, sondern ganz Mitteleuropas. Im selben Jahr 1908 feierte der österreichisch-ungarische Kaiser Franz Joseph I. sein 60. Thronjubiläum und ließ BosnienHerzegowina annektieren. Eine Zeit, die so fern wirkt, dass man sich gar nicht vorstellen kann, das sie jemand, der heute noch lebt, überhaupt erlebt haben kann.
Als der alte Monarch wenige Jahre später mit dem Salonwaggon im Linzer Bahnhof einfuhr, huldigte ihm Wiesmayr mit den anderen Kindern von der Elternwohnung aus: »Wissen Sie, mein Herr, wenn der Kaiser Franz Joseph mit dem Sonderzug nach Linz durch die Franckstraße gefahren ist, da haben wir gejubelt und ihm zugewinkt.«
In ihrer Schulzeit hatte Wiesmayr eine Tageszeitung ausgetragen. »Für 20 Schilling im Monat. Das war viel Geld damals und sehr verantwortungsvoll.« Dann hat sie in einer Honigfabrik in Grein gearbeitet. »Ich liebe Bienen«, sagt Wiesmayr plötzlich mehrmals und tut so, als ob ihr eine Biene zärtlich über die Hand klettert und sie mit ihr spielen wolle.
An den Ersten Weltkrieg hat die Österreicherin keine konkrete Erinnerung mehr. 1934/35 baute sie sich mit ihrem ersten Mann in der Linzer Dauphinstraße ein Haus. Dieser war Tischler und konnte vieles noch selber herstellen. An den Zweiten Weltkrieg, während dem Wiesmayr bei der Post in Kleinmünchen arbeitete, will sie sich nicht erinnern: Denn die Zeitzeugin erlebte die Bombenangriffe auf die Industrie- und Rüstungsstadt Linz, das damals zu NaziDeutschland gehörte und eine der Lieblingsstädte des gebürtigen Oberösterreichers Adolf Hitler war.
Durch die Bombensplitter und Druckwellen der Detonationen zersprangen Gläser in ihrer Wohnung, sie selbst blieb unversehrt. Doch ihr Ehemann sollte nie mehr aus Russland zurückkommen, er blieb verschollen und wurde für tot erklärt. »Ihm hat sie lange nachgetrauert, das belastet sie bis heute. Wahrscheinlich hat sie nie richtig abschließen können mit seinem Tod, schließlich gibt es ja auch kein Grab von ihm, das sie besuchen hätte können«, sagt Sohn Rudolf. Er kam 1948 zur Welt, als seine Mutter bereits 40 Jahre alt war. Ein Jahr nach der Geburt heiratete Wiesmayr in Linz-Lustenau Rudolfs Vater, ein Bahnbediensteter, dessen Vornamen er bekam.
Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Wiesmayr als Magd bei Bauern. In der Nachkriegszeit ging die kleine Familie, weil bitterarm, zu umliegenden Landwirten bei Gallneukirchen »hamstern«. »Dort ein paar Eier, da ein Stückchen Brot und ein bisschen Mehl«, erzählt der 69-jährige Sohn. Manchmal stellte seine Mutter die frische Kuhmilch zur Kühlung in den Bach, damit sie bei den langen Fußmärschen nicht verdarb.
Als das Schlimmste überstanden war, arbeitete sie zu Hause und zog ihren Sohn groß. »Sie war eine gute Mutter und Hausfrau, wie das eben früher so war«, sagt Rudolf. Sein Va- ter ging arbeiten, und seine Mutter war daheim und hat sich um den Garten gekümmert. Noch heute erinnert sich Rudolf, wie ihn sein Vater bat, ein Bier und für ihn eine Limonade vom nächsten Wirt zu holen. »Das war nicht so wie früher, dass man alles zu Hause hatte. Im Garten zu sitzen und Bier zu trinken, das war fast schon Luxus.«
Als ihm der Arzt einmal mitteilte, dass er wohl die Gene seiner Mutter habe, antwortete Rudolf geschockt: »Na servus, so alt möchte ich nicht werden.« Er versuche nicht den Lebensstil seiner Mutter zu kopieren und sei ein gänzlich anderer Typ. »Das Altern ist nur schön, solange man mobil ist. Ein Tier wird eingeschläfert, aber der Mensch muss bis zum letzten Atemzug leiden«, sagt Rudolf, der der Sterbehilfe nicht ablehnend gegenübersteht, solange sie freiwillig ist. Man solle schon noch etwas von seinem Leben haben, sagt er. Er ist froh, dass seine Mutter keine unerträglichen Schmerzen erleiden muss und selbst nach fast 109 Jahren noch Freude am Leben hat.
Bis zum 98. Geburtstag lebte Wiesmayr völlig selbstständig in ihrem Haus in Linz, kochte, putzte, wusch und kümmerte sich um den Garten. Doch dann stürzte sie plötzlich und brach sich den Oberschenkelhals. Im Altenheim kam sie wieder auf die Füße, und ihr Zimmer im zweiten Stock machte sie so lange es eben ging selber sauber. Bis vor einem Jahr kümmerte sich Wiesmayr sogar noch um wesentlich jüngere Heimbewohner. »Noch heute bewegt sie sich mit Hilfe ihrer Beine sitzend im Rollwagen durch das Wohnheim und sucht sich andere betagte Bewohner zum Tratschen«, sagt Pflegeleiterin Elfriede Hackl vom Seniorenheim Liebigstraße.
Als Wiesmayr bereits über 100 Jahre alt war, fragte ein Arzt Rudolf, wie seine Mutter gelebt habe, weil sie Blutwerte hat »wie eine junge Frau« und immer gesund war. Dabei hat die Linzerin nie so gesund gelebt, wie man vermuten würde und wie es uns im Fernsehen, im Internet und von Ärzten geraten wird. Alles, was der Arzt heute verbietet, hat sie gegessen. Selbst gemachte Torten, den Kaffee und sogar den Salat hat sie so stark gezuckert, dass es im Mund »gekrisselt« hat. Das Fleisch musste immer schön fett sein. »Und fast zu jedem Essen tat sie Schweinefett hinzu«, erinnert sich Rudolf.
Vielleicht könnten das im eigenen Garten gezogene Gemüse und die selbst gezüchteten Kaninchen ein Grund für das lange Leben von Wiesmayr sein, vermutet ihr Sohn. Was heute »bio« heißt, ist für Wiesmayr seit über 100 Jahren die normale Art zu essen. Einzig geraucht oder Alkohol getrunken habe seine Mutter nie. Und Fleisch habe es nur einmal die Woche am Sonntag gegeben. »Das war ja Luxus. Wir hatten ja nicht viel.« Wiesmayr ist Frühaufsteherin – bis heute. Schon um vier oder fünf Uhr früh hält sie es nicht mehr im Bett aus. Kein Wunder, geht sie doch bereits gegen sieben Uhr abends schlafen.
Nicht einmal sportlich ist Wiesmayr jemals gewesen, dafür sportbegeistert. Bei Ski- und Formel-1Rennen hat sie früher immer vor dem Fernseher mitgefiebert. »Das war ihre Leidenschaft. Noch mit über 100 Jahren hat sie dem Sebastian Vettel zugejubelt«, sagt Rudolf. Wiesmayr hat zehn Geschwister, alle sind längst gestorben. »Mit so einem hohen Alter hat man keine Konkurrenz mehr«, scherzt ihr Sohn, der ein sehr inniges Verhältnis zu seiner Mutter hat. Er wünscht ihr zum Geburtstag, dass sie bleibt wie sie ist.
Als ihm der Arzt einmal mitteilte, dass er wohl die Gene seiner Mutter habe, antwortete Rudolf geschockt: »Na servus, so alt möchte ich nicht werden.«