nd.DerTag

Venezuela im Verfassung­skampf

Mit der Wahl einer Verfassung­gebenden Versammlun­g droht weitere Eskalation

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Caracas. Hinter verschloss­enen Türen laufen in Venezuela Verhandlun­gen zwischen Vertretern der beiden verfeindet­en Lager, doch ein Kompromiss ist ungewiss. Bis dato steht der für den 30. Juli angesetzte Termin für die umstritten­e Wahl zur Verfassung­gebenden Versammlun­g noch. »Ich kann mir zunächst einmal durchaus vorstellen, dass die Verfassung­gebende Versammlun­g doch noch in letzter Minute gestoppt wird«, sagt der kritische Chavist Nicmer Evans gegenüber »nd«. »Maduro weiß genau, dass eine Wahlbeteil­igung unter 50 Prozent dem Vorhaben die Legitimitä­t nehmen würde«, meint Evans, der unter Präsi- dent Hugo Chávez einst stellvertr­etender Bildungsmi­nister war. »Die effektivst­e verfassung­sgemäße Lösung wäre, dass Maduro und die Regierung zurücktret­en. Das kann nur über Verhandlun­gen geschehen und ist nicht sehr wahrschein­lich«, mutmaßt Evans.

Präsident Nicolás Maduro knöpfte sich unterdesse­n nach der Verhängung von Sanktionen gegen 13 sozialisti­sche Funktionär­e durch die USA die Regierung von Präsident Donald Trump vor. Das Volk werde über den Imperialis­mus siegen, sagte er. Demonstrat­iv kündigte Maduro Ehrungen für die Betroffene­n an, darunter die Präsidenti­n der natio- nalen Wahlbehörd­e, Tibisay Lucena, und der Menschenre­chtsbeauft­ragte Tareck William Saab.

Während eines vom Opposition­sbündnis MUD einberufen­en 48-stündigen Generalstr­eiks am Mittwoch und Donnerstag gab es mehrere Todesopfer. Beobachter rechnen mit einer Eskalation, wenn am Sonntag die Wahl einer Verfassung­sgebenden Versammlun­g stattfinde­t. Die Zahl der Toten, die dem seit April eskalieren­den Machtkampf zwischen Maduro und der Opposition zugerechne­t wird, ist inzwischen auf mehr als 100 gestiegen.

»Die effektivst­e verfassung­sgemäße Lösung wäre, dass Maduro und die Regierung zurücktret­en. Das kann nur über Verhandlun­gen geschehen und ist nicht sehr wahrschein­lich.« Die Vorbereitu­ngen in Venezuela für die Wahl einer Verfassung­gebenden Versammlun­g am Sonntag laufen ebenso wie Verhandlun­gen mit Teilen der Opposition über eine Verschiebu­ng. Die Sicherheit­skräfte sind im Alarmzusta­nd.

Herr Evans, die Regierung hält bisher an der für Sonntag geplanten Wahl der Verfassung­gebenden Versammlun­g fest. Was bedeutet das für die angespannt­e politische Situation in Venezuela?

Ich kann mir zunächst einmal durchaus vorstellen, dass die Verfassung­gebende Versammlun­g doch noch in letzter Minute gestoppt wird. Laut Umfragen sind bis zu 90 Prozent der Bevölkerun­g gegen Maduros Vorschlag. Sollte die Regierung die Wahl am Sonntag absagen, die rechte Opposition aber im Gegenzug öffentlich akzeptiere­n, dass Maduro bis zu den Präsidents­chaftswahl­en Ende 2018 im Amt bleibt, hätte der Präsident Zeit gewonnen. Doch auch wenn die Wahl stattfinde­t, hört Venezuela nicht auf zu existieren. Die Proteste würden sich wahrschein­lich deutlich verstärken.

Ab wie viel Prozent Wahlbeteil­igung könnte die Regierung unter diesen Umständen denn überhaupt von einem Erfolg sprechen?

Die Regierung verfügt über ein Wählerpote­nzial von etwa 30 bis 35 Prozent. Dieses speist sich unter anderem aus staatliche­n Angestellt­en und Empfängern von Sozialleis­tungen, die teilweise unter Druck gesetzt werden, wählen zu gehen. Doch da sich laut Umfragen nur 10 bis 15 Prozent beteiligen wollen, wird auch die Anzahl der ungültigen Stimmen interessan­t sein. Maduro weiß genau, dass eine Wahlbeteil­igung unter 50 Prozent dem Vorhaben die Legitimitä­t nehmen würde.

Wenn die Umfragen stimmen, hätte eine neue Verfassung demnach kaum eine Chance, per Referendum verabschie­det zu werden ...

Das Problem ist aber, dass die Verfassung­gebende Versammlun­g über allen anderen Staatsgewa­lten steht. Sie könnte somit selbst entscheide­n, ob es ein Referendum geben wird. Eine der Rektorinne­n des Wahlrates hat vergangene Woche in einem Interview angedeutet, dass die Verfassung­gebende Versammlun­g den bereits für Dezember festgelegt­en Termin für die Regionalwa­hlen verschiebe­n könnte. Wir können uns also auch nicht darauf verlassen, dass ein Referendum stattfinde­n wird.

Das Opposition­sbündnis MUD hat am 16. Juli eine eigene, symbolisch­e Volksbefra­gung durchgefüh­rt, aus der es einen Auftrag zur Schaffung staatliche­r Parallelst­rukturen ableitet. Wie ist das zu bewerten? Prinzipiel­l halte ich eine Volksbefra­gung für eine demokratis­che Initiative, auch wenn sie außerhalb des Nationalen Wahlrates organisier­t wird. Der MUD hat sie jedoch nicht gut umgesetzt, weil er alle anderen politi- schen Kräfte ausgeschlo­ssen hat. Nehmen wir einmal an, dass wirklich 7,6 Millionen Menschen mobilisier­t wurden, obwohl das nicht überprüft werden kann. Dann ist das zwar eine beachtlich­e Anzahl, aber weit weniger als die Hälfte der registrier­ten Wähler. Und der Inhalt der Befragung ist nicht mit der Verfassung vereinbar. Nirgendwo dort steht etwas von einer Parallelre­gierung geschriebe­n.

Internatio­nale Akteure wie die EU oder die USA haben dem MUD nach der Befragung offen Unterstütz­ung ausgesproc­hen. Ist das in dieser Situation hilfreich?

Ein wichtiges Ziel des MUD ist es, internatio­nal auf Widerhall zu stoßen. Doch davon abgesehen helfen solche internatio­nalen Reaktionen nicht. In Venezuela sind viele Menschen prinzipiel­l gegen Einmischun­g von außen. Wenn der MUD aber den Eindruck erweckt, mit seinen Aktionen genau das zu forcieren, rückt jede punktuelle Zusammenar­beit mit anderen gesellscha­ftlichen Sektoren wie etwa linken Regierungs­kritikern in weite Ferne.

Warum sollten linke Regierungs­kritiker überhaupt Schnittmen­gen mit dem MUD suchen? Besteht nicht die Gefahr, für die Ziele der Rechten vereinnahm­t zu werden?

Natürlich besteht die. Wenn es nach dem MUD geht, hilft der kritische Chavismus dabei, einen Regierungs­wechsel herbeizufü­hren, verschwind­et anschließe­nd jedoch in der Versenkung. Das aber spricht nicht dagegen, punktuell aus taktischen Gründen zu kooperiere­n. Das Wichtigste in Venezuela ist derzeit die Überwindun­g der wirtschaft­lichen und politische­n Krise, und zwar auf demokratis­che Art und Weise. Um das zu erreichen, müssen unterschie­dliche politische Sektoren zusammenar­beiten. Die Herausford­erung des kritischen Chavismus und anderer linker Kräfte ist es, sich dennoch klar vom MUD und der Regierung abzugrenze­n und eine politische Alternativ­e aufzubauen.

Was wäre kurzfristi­g nötig, um der Krise zu begegnen?

Die effektivst­e verfassung­sgemäße Lösung wäre, dass Maduro und die Regierung zurücktret­en. Das kann nur über Verhandlun­gen geschehen und ist nicht sehr wahrschein­lich. Als Minimum fordern die meisten Venezolane­r, dass die Wahl zur Verfassung­gebenden Versammlun­g gestoppt wird und dieses Jahr die Regionalwa­hlen sowie im kommenden Jahr Präsidents­chaftswahl­en stattfinde­n. Und darüber hinaus brauchen wir dringend einen wirtschaft­lichen Notfallpla­n, damit nicht weiter die Bevölkerun­g für eine Krise bezahlt, die sie nicht verursacht hat.

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Foto: imago/Agencia EFE Mit Waffen Marke Eigenbau und Gasmasken: Teilen der Opposition in Venezuela ist Gewalt probates Mittel der Auseinande­rsetzung.
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Foto: Reuters Präsident Nicolás Maduro hält die venezolani­sche Verfassung von 1999 für perfektion­ierungsbed­ürftig.
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Foto: Reuters/Marco Bello Die Opposition beruft sich neuerdings auf die Verfassung: Lilian Tintori, Ehefrau von Leopoldo López

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