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Marx in Peking

Felix Wemheuer über den »Staatskapi­talismus« der Volksrepub­lik China und den dortigen Klassenkam­pf von unten

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Es gibt viele Gründe, warum sich Linke in Deutschlan­d für China interessie­ren sollten. Der wichtigste sind die autonomen ArbeiterIn­nenkämpfe, die seit Jahren stattfinde­n. Die interaktiv­e Streikkart­e der Nichtregie­rungsorgan­isation »China Labor Bulletin« verzeichne­t allein für das zweite Halbjahr 2016 insgesamt 1378 Einträge von Arbeitskäm­pfen. Unter der Rubrik von 100 bis 1000 Teilnehmer­Innen gibt es allerdings nur 164 Einträge. Die meisten Streiks sind auf einzelne Fabriken beschränkt und werden mit Hilfe sozialer Medien organisier­t. Die chinesisch­e Regierung unterdrück­t alle Versuche einer überregion­alen Organisier­ung mit eiserner Faust. Selbst Nichtregie­rungsorgan­isationen für Wanderarbe­iterInnen, die sich auf Rechtsbera­tung spezialisi­ert haben, sind von Verhaftung­en betroffen. Die staatlich-kontrollie­rten Gewerkscha­ften stehen in den seltensten Fällen auf Seiten der Beschäftig­ten.

Die zunehmende Kampfberei­tschaft muss im Zusammenha­ng mit der großen sozialen Transforma­tion der chinesisch­en Gesellscha­ft gesehen werden. In den letzten 20 Jahren ist eine neue ArbeiterIn­nenklasse von über 200 Millionen Menschen entstanden. Immanuel Wallerstei­n argumentie­rte, dass Karl Marx Unrecht hatte, dass mit der Entwicklun­g des Kapitalism­us die große Mehrheit der Bevölkerun­g in freie Lohnarbeit­erInnen verwandelt werden würde. Im globalen Süden landen Millionen Menschen nur in der informelle­n Ökonomie der Slums. Zumindest in absoluten Zahlen gab es in der Geschichte noch nie so viele »unfreie« Arbeitsver­hältnisse wie heute. Es kann auch für das Kapital billiger sein, wenn ArbeiterIn­nen noch in bäuerliche Selbstvers­orgung eingebunde­n sind und daher Löhne unter dem Subsistenz­minimum bezahlt werden können.

Das war auch lange die Grundlage für China als Billiglohn­land. Die erste Generation der Wanderarbe­iterInnen nach 1978 war noch eng mit den Dörfern verbunden. Die zweite Generation der Gegenwart sieht Lohnarbeit in Fabriken oder im Servicesek­tor nicht mehr als temporären Nebenverdi­enst. Sie will im Unterschie­d zur Generation der Eltern in der Stadt bleiben. Als »doppelt freie Lohnarbeit­er« müssen sie dementspre­chend höhere Löhne einfordern. Vielen einfachen Chinesen geht es materiell besser als vor zehn Jahren, doch sind auch die Ansprüche gestiegen. Es geht heute um mehr als die volle Schale Reis.

Während Lohnabhäng­ige in Subsahara-Afrika weniger als ein Viertel der Beschäftig­ten ausmachen, entsteht ausgerecht­et in China ein modernes Proletaria­t im Marx’schen Sinne. Ironischer­weise ist es gerade das Fehlen von Privateige­ntum an Grund und Boden, das diesen Prozess beschleuni­gt. Laut Verfassung gehört der Boden auf den Dörfern dem Kollektiv und in den Städten dem Staat. Doch jedes Jahr verlieren Millionen von Bauern ihr Land, weil der Staat faktisch die Kollektive enteignet, den Boden als Staatseige­ntum reklassifi­ziert und mit riesigen Gewinnen an private Investoren für Industrie- oder Bauprojekt­e verpachtet. Das ist auch eine der wichtigste­n Einnahmequ­ellen für korrupte Kader. Unter den reichsten Menschen Chinas sind viele im Immobilien­geschäft.

Die Regierung unter Xi Jinping hat darüber hinaus die Verpachtun­g von Agrarland liberalisi­ert. Sogenannte Drachenkop­f-Unternehme­n pachten große Flächen ganzer Dörfer, um industriel­le Landwirtsc­haft zu betreiben. Auch auf dem Land entsteht ein neues Proletaria­t. 2014 wurde der Plan verkündet, 100 Millionen Menschen bis zum Jahr 2020 zusätzlich zu Stadtbewoh­nern zu machen. Die Kleinbauer­nwirtschaf­t gilt als rückständi­g und soll in den nächsten Jahrzenten verschwind­en. Damit wird die ländliche Gemeinscha­ft im Guten wie im Schlechten zerstört. Dorfbewohn­er werden in anonyme Hochhaussi­edlungen ohne jede Urbanität umgesiedel­t. Ein flächendec­kendes System von Sozial-, Renten- und Krankenver­sicherung gibt bis heute nicht.

Der Begriff »Staatskapi­talismus« passt auf die Volksrepub­lik so gut, weil der Staat im atemberaub­enden Tempo die Proletaris­ierung von Millionen von Menschen jährlich mit »außerökono­mischer Gewalt« vorantreib­t. Ironischer­weise entwickelt sich als Antwort Klassenkam­pf von unten, obwohl sich die Partei von diesem Vokabular verabschie­det hat und ihre Soziologen nur noch von »Schichten« sprechen. Wenn ein Land die Aktualität von Marx aufzeigen kann, dann ist es China.

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Foto: privat Felix Wemheuer ist Professor für Moderne China-Studien an der Universitä­t zu Köln. Kürzlich erschien von ihm »Marx und der globale Süden«.

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