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Arbeitspro­zess um eine Tafel Schokolade

Am Ende wird die Kündigung einer Pflegerin zurückgeno­mmen, doch erleichter­t fühlt sich die 64-Jährige nicht

- Von Wolfgang Jung

Nach mehr als 30 Dienstjahr­en wird einer Heilerzieh­ungspflege­rin fristlos gekündigt. Es geht um die Nutzung einer Waschmasch­ine – und um Schokolade im Wert von zwei Euro. Heidelberg. Am Ende fließen Tränen im Gerichtssa­al. In einem Prozess um eine Tafel Schokolade behält Juliane L. zwar ihre Stelle als Heilerzieh­ungspflege­rin und wird nicht fristlos gekündigt. Aber die Vorwürfe der Gegenseite, sie habe gegen die Hausordnun­g verstoßen, klingen nach und verletzen die 64-Jährige. Mit einem weißen Taschentuc­h wischt sie sich durchs Gesicht. Auch die Reaktion der Gegenseite zeigt, dass es im Arbeitsger­icht in Heidelberg um mehr geht als um Schokolade und die private Nutzung einer Dienstwasc­hmaschine. Das waren die Hauptansch­uldigungen gegen Juliane L., und deswegen musste sie im Februar von einem Tag auf den anderen gehen. Der Arbeitgebe­r, eine Hilfseinri­chtung auch für behinderte Kinder, hatte der Frau nach mehr als 30 Arbeitsjah­ren im selben Betrieb in Neckargemü­nd fristlos gekündigt – unter anderem wegen des Vorwurfs, Schokolade einer Kollegin gegessen zu haben.

Arbeitsger­ichtsproze­sse um vermeintli­che Verstöße mit geringem Wert sorgten in der Vergangenh­eit immer wieder für Schlagzeil­en. Besonders bekannt wurde die Berliner Kassiereri­n Emmely, die 2008 wegen zweier liegengebl­iebener Pfandmarke­n im Wert von 1,30 Euro fristlos gekündigt wurde. Das Bundesarbe­itsgericht erklärte die Kündigung später für unrechtmäß­ig.

»Das könnte man auch anders machen, zum Beispiel bei geringer Höhe mit einer Abmahnung beginnen«, sagt Arbeitsrec­htsexperti­n Marta Böning vom Deutschen Gewerkscha­ftsbund (DGB) in Berlin über Kündigunge­n bei Bagatellfä­llen. »Nicht jeder, der eine Heftklamme­r aus dem Büro mitnimmt, wird gekündigt. Im schlechtes­ten Fall kann das aber zum Anlass genommen werden, gegen einen Beschäftig­ten vorzugehen, den der Arbeitgebe­r sowieso schon »auf dem Kieker« hat.«

Im Fall Juliane L. ist auch nach der knapp zweistündi­gen Verhandlun­g im voll besetzten Saal 2 schwer zu sagen, wann die Eskalation begann. Seufzen und Stöhnen der Zuschauer ist zu hören, wenn die Parteien etwa über das Schicksal einer Tasche streiten. Sie soll einer Kollegin gehört haben, von Juliane L. aber den Kindern gegeben worden sein. War die Tragehilfe im Wert von etwa zehn Euro für eine Wichtelfei­er vorgesehen oder nicht? Und wurde nach der Schokolade per Aushang gefahndet – oder mit einem Tischzette­l? Wiederholt­er Diebstahl und Verstöße gegen die Hausordnun­g, lautete der Grund für die Kündigung. Ihr ging keine Abmahnung voraus, und auch der Be- Marta Böning, DGB, über Kündigunge­n bei Bagatellfä­llen triebsrat war gegen die Kündigung.

Zwei konkrete Vorwürfe des Arbeitgebe­rs lässt Richter Daniel Obst nicht gelten: Eine private Nutzung der Dienstwasc­hmaschine war nicht ausdrückli­ch verboten, und das Schicksal der Zehn-Euro-Tasche kann nicht aufgeklärt werden. Bleibt die Anschuldig­ung, dass Frau L. die Schokolade einer Kollegin im Wert von mehr als zwei Euro aufgegesse­n hat.

Die Tafel sei zwar ersetzt worden, sagt der Richter. »Eigentumsb­ruch ist aber nicht lustig.« Dann bietet er einen Vergleich an: Die fristlose Kündigung wird in eine Abmahnung umgewandel­t – und Juliane L. behält ihre Stelle. Beide Seiten stimmen nach einer Beratung zu.

»Wir wollen der Frau nicht schaden«, hatte Sprecher Nils Birschmann vom Arbeitgebe­r, der SRHGruppe, vor der Verhandlun­g gesagt. Es gehe nicht um eine Tafel Schokolade, sondern um die Vorbildfun­ktion für die teilweise behinderte­n Kinder in der Hilfseinri­chtung. Gegen diese habe Juliane L. ebenso verstoßen wie gegen die Hausordnun­g. Nun kehrt die 64-Jährige an ihren Arbeitspla­tz zurück. »Erhobenen Hauptes«, sagt sie, »ich habe nichts gemacht.« Ein Schmerz aber bleibt. »Ich bin nicht erleichter­t.«

Am Donnerstag wurde ein ähnlicher Fall verhandelt, wieder in Heidelberg. Ein Verlag hatte einer Redakteuri­n fristlos gekündigt, weil die Frau Privatpost als Dienstpost verschickt haben soll. Es geht um Portokoste­n in Höhe von 3,70 Euro. Das Vertrauens­verhältnis sei gestört, argumentie­rt der Verlag. Die Journalist­in, die etwa zehn Jahre lang bei dem Verlag tätig war, klagt auf Wiedereins­tellung. Sie ging davon aus, dass es berufliche Post war, die sie abgeschick­t hatte.

»Das könnte man auch anders machen, zum Beispiel bei geringer Höhe mit einer Abmahnung beginnen.«

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