Ein Bild aus lauter Splittern
In Rheinsberg uraufgeführt: James Reynolds’ Kammeroper »Tucholskys Spiegel«
Schreiben, schreiben, schreiben, schreiben« – auf dies tägliche Gebet aller Schreibsüchtigen, -lustigen, -gequälten, -verpflichteten, -begnadeten lassen sich auch Koloraturen singen. James Reynolds, in Berlin lebender Kalifornier, und Christoph Klimke, Oberhausener in Berlin, schufen eine Kammeroper über den obsessiven Schreiber Kurt Tucholsky. Da stehen sie an der Rampe, seine fünf Verkörperungen, und tippen auf imaginären Schreibmaschinen, da liegen sie und betten ihr Haupt auf das wichtigste Requisit, die kleinen Reiseschreibmaschine.
Die Bühne (Jule Dohrn-van Rossum) ist ein Lebens-Kampfplatz, ein Boxring. Drei Sängerinnen und fünf Sänger blicken immer wieder in kleine Spiegel und sehen: Tucholsky und die wichtigsten Frauen in seinem Leben, Tucholsky und sein Vater-Ersatz, Freund, Mentor, Geschäftspartner Siegfried Jacobsohn, und immer wieder Tucholsky, schreibend aufgeteilt in seine vier »Bezirke« Ignaz Wrobel, Theobald Tiger, Peter Panter, Kaspar Hauser. Schließlich Kurt Tucholsky als sein wahres Alter Ego, allein, maskenlos, erst 45 Jahre alt, todkrank. Am 21. Dezember 1935 stirbt er in Schweden. In 13 Szenen streuen Klimke und Reynolds Splitter von Tucholskys Lebenslauf aus, und am Ende fügt sich ein erstaunlich eindringliches Persönlichkeitsbild daraus.
Der junge Tucholsky vor dem Ersten Weltkrieg, ein begabter Schüler, ein jugendlicher Frauenfreund, ein früher literarischer Erfolg mit der heiteren Novelle »Rheinsberg«. Der Mann Tucholsky als Freund der Cabarets, Jazzkeller und Boxkämpfe, als Autor in der Schaubühne/Weltbühne seines Freundes Jacobsohn, als Soldat im und als Pazifist nach dem Ersten Weltkrieg, anschreibend gegen Militaristen, Fememörder und alle Dunkelmänner in der Weimarer Republik. Schließlich Tucholsky als Emigrant in Paris und Schweden.
Klimke und Reynolds benutzen immer nur einzelne Sätze Tucholskys, wenige Gedichtzeilen, knappe Bemerkungen. Regisseur Robert Ne- mack zeigt sich als handwerklich-stilistischer Perfektionist. Er führt die Darsteller als typisierten, fast mechanisierten, sogar tanzartigen Bewegungschor, aus dem heraus Einzelne fast blitzartig in ein schier überschwängliches Spiel ausbrechen. Mit knappsten Mitteln, Tür auf, Tür zu, Hut auf, Hut ab, werden Situationen, vor allem aber Seelenzustände klar.
Zum revuehaften Stück, zur revuehaften Inszenierung gehört revuehafte Musik. Reynolds hat keine Scheu. Er verwendet ambitionierte Stimmen- und Orchestercluster, komponiert orchestrale Aufschreie wie die ehrlichen altgedienten Avantgardisten der Neuen Musik, um kurz darauf ein lieblich ausschweifendes Flötensolo hören zu lassen. Eine Combo spielt Zwanziger-Jahre-Musik im Sound der Achtziger, die Sänger bringen Weingläser zum sphärischen Klingen und benutzen die Mundhöhle als Percussionsinstrument.
Ganz und gar bewunderungswürdig die vokale Ensembleleistung der Sänger. Einzelne Wörter eines Satzes werden von Stimme zu Stimme weitergereicht und trotzdem schwingen die Gesangslinien. Ensemblesätze sind blitzsauber, ein romantisches Liebesduett – kommt auch vor – und diverse ariose Abschnitte erglänzen in purem Wohllaut. Die reine Freude, zuzuhören. Neben all der Jugend auch ein Charakterdarsteller und -sänger: Jochen Kowalski als Tu- cholsky himself. Was Kowalski aus seiner Altus-Altersstimme macht, wie er spielt: Der Mann wird auf eine besondere Art immer besser. Es musizierte ein Orchester, über dessen Meriten in der Alten Musik nicht mehr geredet werden muss, das aber hörbar auch andere Qualitäten hat: die Kammerakademie Potsdam. Perfekt alle Instrumentalisten und genauso perfekt, vor allem auch als Anwalt der Sänger, Marc Niemann am Pult.
Mit »Tucholskys Spiegel« wurde nicht die Oper und schon gar nicht die biografische Oper neu erfunden. Aber es ist ein gutes, gehirn- und ohrenanregendes, nachspielbares neues Werk entstanden. Aus der Gerüchteküche brodelt herüber, dass Festspielleiter Frank Matthus nach dem nächsten Kammeroper-Sommer in Rheinsberg aufhört. Nach diesem Werk: Schade um die Programmlinie Uraufführungen.
Was Kowalski aus seiner Stimme macht, wie er spielt: Der Mann wird auf eine besondere Art immer besser.
Nächste Vorstellungen: 28., 29. Juli