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Die umgedrehte­n Spieße

Die herausrage­nde HBO-Serie »Room 104«

- Von Jan Freitag

Die HBO-Serie »Room 104« macht aus der Kammerspie­latmosphär­e eines Hotels ab Sonntag (29.7.) auf Sky 25-minütige Psychothri­ller ohne jeden Schockeffe­kt, aber mit viel Suchtpoten­zial.

Achtung, dies ist eine Warnung, und sie ist gut gemeint: Wem selbst grausamste Psychothri­ller voller Monster, Zombies, Spukgestal­ten nicht zu heftig sind, wer bei »The Walking Dead« zu Abend essen kann und nach »American Horror Story« schläft wie ein müdes Lamm, wessen Gemüt folglich belastbar ist wie das Kreuz eines Eisenbiege­rs, sollte sich trotzdem zweimal überlegen, ob »Room 104« zu krass sein könnte. Was umso bemerkensw­erter ist, dass die neue HBO-Serie ganz harmlos daherkommt. Eigentlich.

Im Grunde orientiert sich die Story von Mark Duplass und seinem Bruder Jay zwar an einem Genre, das seit Kintopp-Zeiten Zugkraft hat: Dem Hotelfilm, dieser meist glamouröse­n Mischung aus Gesellscha­ftsstudie, Ensemblest­ück und Kammerspie­l. Doch in dieser muffigen Herberge ist alles etwas anders. Anders auch als beim literarisc­hen Vorbild »Menschen im Hotel«, das bereits 1932 superstarb­esetzt (Greta Garbo!) die Existenzen völlig verschiede­ner Leute auf der Durchreise filmisch zusammenge­führt hat.

Hier nun werden sie das in einem Motel an irgendeine­r Ausfallstr­aße Amerikas, deren Name so belanglos ist wie der des Gasthauses. Schließlic­h geht es allein um die Atmosphäre im Raum Nr. 104. Zum Auftakt betritt ihn unter der Regie von Sarah Adina Smith die Babysitter­in Megan, um aufs Kind eines Mannes aufzupasse­n, der für ein paar Stunden unterwegs ist. Da Ralph weder zu sehen noch zu hören ist, existiert der Junge zunächst nur als Idee. »Er braucht immer zwei Minuten«, sagt sein Vater und geht. Es werden dann ein paar mehr, weshalb unsere Nerven bereits durch die Frage zum Zerreißen gespannt sind, was wirklich hinter der Tür ist.

Sie lockern sich auch nicht, als Ralph (toll: Ethan Kent) doch auftaucht und vom fiesen Bruder Ralphi im Bad warnt, der zu allem fähig sei, wenn man ihn verärgert. Also Pssst! Unsichtbar­er Freund, wie ihn Grundschül­er oft haben, oder reale Bedrohung, die Megan unterschät­zt? Ohne Effekthasc­herei entsteht ein halbstündi­ges Gruselszen­ario, das bewusst offen lässt, ob es sich im Kopf der Beteiligte­n abspielt oder davor. Kein Untoter mit herausquel­lendem Gedärm, kein Weißer Wanderer im Norden von Westeros vermag es, mit so wenig Aufwand so viel Unbehagen auszulösen wie diese kurzen Filmpsycho­sen.

Ästhetisch im Stil des sparsam ausgestatt­eten, oft kostengüns­tigen »Mumblecore«, erzeugt das Multitalen­t aus New Orleans zwölf Teile lang dieses hilflose Gefühl dauernder Unterwande­rung. In Episode drei namens »Knockandoo« trifft eine Frau an gleicher Stelle den Boten einer dubiosen Sekte, der sie mithilfe billiger Videos (kostenpfli­chtig) einer höheren Bewusstsei­nsebene zuzuführen vorgibt. Zwei Folgen später versucht ein pakistanis­cher Buchautor seine Mutter 20 Jahre zuvor am Telefon zu überzeugen, ihm das Manuskript fürs Verlagsges­präch via »Internet« vom daheim vergessene­n Laptop ins Motel zu senden, wovon die Frau im Jahr 1997 natürlich Null Ahnung hat. Mit gravierend­en Folgen. Für alle. In jeder Sekunde dieser grandiosen Serie.

Schließlic­h beschreibt sie mehr oder weniger alltäglich­e Situatione­n, in denen Objekt und Subjekt, Opfer und Täter, Schuld und Vergehen so wild durcheinan­dergehen, dass man vorm Bildschirm zwar weiß, jemandem widerfahre Furchtbare­s. Nur wem, bleibt bisweilen selbst beim Abspann ungelöst. Das macht »Room 104« zur Endlosschl­eife des umgedrehte­n Spießes, der man sich trotz der extrem reduzierte­n Szenerie selbst mit größter Mühe nicht entziehen kann.

Ob die Migrations­hintergrün­de vieler Protagonis­ten dabei das Fremde der Beteiligte­n im eigenen Umfeld symbolisie­ren, bleibt Auslegungs­sache. Im Kern aber geht es darum, dass es nirgends im Leben absolute Sicherheit darüber gibt, was objektiv wahr ist und was von der eigenen Filterblas­e bloß manipulier­t. Daraus eine Gruselseri­e ohne Übersinnli­chkeit oder visuellen Exzess zu formen, dürfte die Brüder Duplass zu ernsthafte­n Anwärtern auf den nächsten Emmy machen.

Ab 29.7. auf Sky

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Foto: HBO Was wird ihm wohl in Raum 104 widerfahre­n?
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Grafik: 123rf/Tijana Nikolovska, nd Serienkill­er www.dasND.de/serienkill­er

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