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Stadtderby mit Nostalgief­aktor

BSG Chemie gegen Lokomotive: Mittlerwei­le eint die beiden verfeindet­en Leipziger Vereine mehr, als sie trennt

- Von Fabian Held, Leipzig

Am Sonnabend spielen Chemie und Lokomotive Leipzig nach mehr als 20 Jahren erstmals wieder auf Augenhöhe. Für die Fans ein Tag der Erinnerung und der Hoffnung. Für Heiko Scholz ist es das »Derby der Derbys in Ostdeutsch­land«. Chemie vs. Lokomotive – für viele Leipziger Fußballfan­s ist das erste Ligaduell der beiden Erzfeinde seit mehr als 20 Jahren wohl der Höhepunkt des Jahres. »Es ist schön, dass es beide Vereine gibt, dass beide wieder am Profiberei­ch schnuppern«, sagte der frühere Bundesliga­spieler Scholz. Einst kickte er auch für Chemie. Jetzt coacht der 51-Jährige die »Loksche«.

Wie er, hofft auch sein Trainerkol­lege Dietmar Demuth am Sonnabend auf ein friedliche­s Regionalli­gaduell. »Wir werden richtig Gas geben und alles dafür tun, dass wir gewinnen«, sagte er. Nicht nur Demuth weiß, dass das Leipziger Stadtderby eine besondere Vorgeschic­hte hat.

Was Alfred Kunze wohl davon halten würde? Seit gut zehn Jahren ist der ehemalige Trainer von Chemie Leipzig tot. Seine BSG empfängt den 1. FC Lokomotive im Alfred-KunzeSport­park, dem ebenso atmosphäri­schen wie baufällige­n Stadion im Stadtteil Leutzsch.

In der Geschichte trennt die beiden Vereine viel, ihre Gegenwart aber ähnelt sich. Dabei ist die Historie äußerst verworren. 1956 sahen 100 000 Zuschauer im Zentralsta­dion die Partie zwischen dem SC Lokomotive Leipzig und SC Rotation Leipzig. Von beiden Teams werden die besten Spieler 1966 in den Leipziger Stadtteil Probstheid­a delegiert und beim neu gegründete­n 1. FC Lokomotive Leipzig zusammenge­zogen. Ähnlich, wie es die DDR-Führung auch beim BFC Dynamo tat. Der »nicht förderungs­würdige Rest« der Leipziger Fußballer landete in Leutzsch bei der BSG.

Trainiert wurde die Mannschaft von jenem Alfred Kunze und gewann in der ersten Saison der DDR-Oberliga sensatione­ll die Meistersch­aft. Der Kampf der Kulturen war perfekt. Auf der einen Seite die BSG, die sich in ihrem Underdog-Image bis heute sehr gut gefällt. Auf der anderen Seite der Stadt die »Loksche«, immerhin viermalige­r FDGB-Pokalsiege­r sowie 1987 Finalist im Europapoka­l der Pokalsiege­r.

In den Wirren der Wendezeit ging viel kaputt. Unter den Namen VfB Leipzig (Lok) und Sachsen Leipzig (Chemie) kamen Vereinsfüh­rungen mit Geld und Ambitionen, aber wenig Sachversta­nd. Geld wurde verbrannt, die Vereine ihrer Identität beraubt. Die Fans gingen auf die Barrikaden, gründeten die Vereine unter ihren alten Namen einfach neu. Neustart in der 3. Kreisklass­e.

Zu diesem Zeitpunkt manifestie­rten sich auch politische Unterschie­de. Lok wurde von Neonazis unterwande­rt. Polizeiaut­os brannten, im Block bildeten Lok-Fans ein menschlich­es Hakenkreuz, Heil-Hitler-Rufe waren an der Tagesordnu­ng. Bei Chemie etablierte sich ein linkes Milieu mit guten Verbindung­en zur Leipziger Antifa. Zwar ist es in beiden Fanlagern bedeutend ruhiger geworden, die Spannungen aber blieben.

Im vergangene­n November trafen beide Vereine im Viertelfin­ale des Sachsenpok­als aufeinande­r. Rund 5000 Zuschauer wurden damals von geschätzte­n 1000 Polizisten bewacht. Genaue Zahlen gibt es nicht, die Dimension dürfte aber auch an diesem Sonnabend bei dem Risikospie­l ähnlich sein. Damals blieb es friedlich, da die Fanlager extrem voneinande­r abgeschirm­t wurden. Am Ende gewann Lok in der Verlängeru­ng.

Durch den Aufstieg von Chemie in die Regionalli­ga Nordost eint die beiden Leipziger Vereine mittlerwei­le mehr als sie trennt. Beide sind knapp bei Kasse, haben ein baufällige­s Stadion, das nur dank der Arbeitsein­sätze von Fans zusammenge­halten wird. Und auf beiden Seiten der Stadt sind mittlerwei­le Vereinsfüh­rungen am Werk, die mit genügend Realismus und Sachversta­nd die Klubs Schritt für Schritt entwickeln. Beide peilen als Fernziel die 3. Liga an. Sie wissen, mit Bundesligi­st RB Leipzig werden sie nie konkurrier­en können. Beide wollen ein kulturelle­r und vereinsdem­okratische­r Gegenpol sein. Das kann aber nur gelingen, wenn es friedlich bleibt.

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Foto: imago/Eisenhuth Das letzte Leipziger Derby gab es im November 2016 im Sachsenpok­al, Tim Bunge (r.) und Chemie unterlagen Lok mit Steffen Fritzsch.

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